1869, Briefe 1–633
7. An Franziska Nietzsche in Oelsnitz
<Basel, Mitte Juni 1869>
Liebe Mutter
nun laß Dir wieder einmal etwas erzählen von Deinem Sohne dem freien Schweizer, und zwar nur Angenehmes und Erfreuliches, eitel „Milch und Honigseim“: ein Gleichniß, das uns unsre Schweizer Frühstückssitte ganz besonders nahe bringt. Freilich ist es ein recht verändertes Leben, das ich hier lebe; nichts mehr von jener souveränen Disposition, von der Verachtung des Tages und der Woche. Vielmehr empfinde ich recht deutlich, wie auch die erwünschteste Thätigkeit, wenn sie „amtlich“ und „berufsmäßig“ betrieben wird, eine Fessel ist, an der unser einer mitunter ungeduldig zerrt. Und dann beneide ich meinen Freund Rohde, der in der Campagna und Etrurien umherschweift, frei wie das Wüstenthier. Am lästigsten wird mir wie Du Dir denken kannst, die greuliche Masse der „geehrten“ Collegen, die sich pflichtmäßig bemühen, mich Abend für Abend einzuladen: so daß ich bereits erfinderisch bin, in geschickter Art Einladungen abzulehnen. Im Übrigen sind die Leute mir wohlgesinnt. Und wer mit einiger Verstimmung meine Ankunft an Ort und Stelle aufgenommen hat, hat sich jetzt entweder ins Unvermeidliche gefügt oder auch bei näherer Bekanntschaft mit mir den Grund seiner Verstimmung gehoben gefühlt. Besonders wichtig nach dieser Seite war meine Antrittsrede, die ich vor ungewöhnlich angefüllter Aula kürzlich erst gehalten habe und zwar „über die Persönlichkeit Homers.“ Durch diese Antrittsrede sind die Leute hier von Verschiedenem überzeugt worden, und mit ihr war meine Stellung, wie ich deutlich erkenne, gesichert. — Ich würde noch viel zufriedner sein, wenn ich meinen Freund Rohde hier hätte: denn es ist lästig sich wieder einen intimen Freund und Berather anschaffen zu müssen, als Hausbedarf.
Sonst habe ich Dir wohl schon den Collegen Burkhardt bezeichnet, einen geistvollen Kunsthistoriker, und ebenso den Nationalökonomen Schönberg, als umgangswerthe Menschen.
Von äußerster Wichtigkeit ist aber, daß ich ja den ersehntesten Freund und Nachbar in Luzern habe, zwar nicht nahe genug, aber doch immer nur so weit, daß jeder freie Tag zu einer Zusammenkunft benutzt werden kann. Dies ist Richard Wagner, der als Mensch durchaus von gleicher Größe und Singularität ist, wie als Künstler. Mit ihm und der genialen Frau von Bülow (Tochter Liszt’s) zusammen habe ich nun schon mehere glückliche Tage verlebt, zB. die letzten wieder, Sonnabend und Sonntag. Wagner’s Villa, am Vierwaldstätter See gelegen, am Fuße des Pilatus, in einer bezaubernden See- und Gebirgseinsamkeit, ist wie Du Dir denken kannst, vortrefflich eingerichtet: wir leben dort zusammen in der angeregtesten Unterhaltung, im liebenswürdigsten Familienkreise und ganz entrückt von der gewöhnlichen gesellschaftlichen Trivialität. Dies ist für mich ein großer Fund.
Soviel für heute. Ich werde Dir sehr dankbar sein, wenn Du mich bald wieder durch einen Deiner inhalt- und liebereichen Briefe über Dein Befinden, und über alles was mich angeht benachrichtigst: denn ich lebe wie auf einer Insel. Meinen lieben Verwandten, in deren Mitte Du lebst, meinen besten Gruß, insgleichen dem Vetter Rudolf. Ich erwarte eine Notiz über Lisbeth’s Geburtstagswünsche.
F. N.