1869, Briefe 1–633
625. An Erwin Rohde in Hamburg
<Leipzig, 22. und 28. Februar 1869>
Mein lieber Freund,
heute am Geburtstage Schopenhauers habe ich niemanden, mit dem ich so vertraut reden könnte als mit Dir. Ich lebe nämlich hier in der aschgrauen Wolke der Einsamkeit und dies um so mehr, als ich von vielen Seiten mit geselligen Armen aufgenommen werde und fast Abend für Abend dem traurigen Zwange der Einladungen Folge leiste. In diesen Gesellschaften höre ich so viele Stimmen und komme gar nicht zu mir selber; wie ist es nur möglich, dieses summende Geräusch auszuhalten? Oder verletzt es mich bloß, weil ich die Ohren der Kalliope habe. Aber es erinnert an die Mücke, jenes Geräusch, und Du weißt, daß die Mücke das musikalische Unthier κατ᾽ἐξοχήν ist, weil zwei Mücken zusammen immer in der kleinen Sekunde singen. Menschen, mit denen man auf den Einklang gestimmt ist oder deren Reden wie schöne Terzen neben den meinigen auf und niedersteigen, habe ich gar nicht an Ort und Stelle; und selbst der vortreffliche Romundt, der wie ich merke, den herzlichen Wunsch hat, mir etwas mehr zu sein als ein guter Bekannter, bleibt meinem Gefühle ich weiß nicht warum doch recht fern. Also Einsamkeit habe ich nicht erst in Basel zu lernen. —
Es sind wieder ein Paar Tage ins Land gegangen, und mein Brief an Dich ist nicht fertig geworden. Heute aber werde ich lebhaft wieder an jene Stimmung erinnert, in der ich ihn begann, heute wo ich als Erinnerung an den Geburtstag Schopenhauers eine Photographie unsers Meisters durch die Liebenswürdigkeit Wieseke’s zugeschickt bekommen — zugleich mit der Einladung, einmal persönlich in Plaue (in der Nähe von Brandenburg) zu erscheinen. Da hat nämlich dieser alte Hahn zur Feier des 22ten Februars sich eine Anzahl Schopenhauerfreunde aus Berlin zusammengeladen, darunter meinen Freund Gersdorff; alle haben sich gefreut, daß einer ihrer Leute Professor geworden ist und haben dessen Wohl in Steinberger 57ger getrunken. Erinnert das nicht an die ersten Christengemeinden und ihre Trunkenheit in süßem Weine? Als Motto für jenen Tag hatte sich jene Gesellschaft folgenden Spruch gewählt „Wie sollte es thöricht sein, stets dafür zu sorgen, daß man die allein sichere Gegenwart möglichst genieße, da ja das ganze Leben nur ein größeres Stück Gegenwart und als solches ganz vergänglich ist?“ Bei Tisch ist der bewußte Silberpokal mit Glanz aufgetreten, der „Onkel“ hat eine kleine Rede geredet, und nach dem Braten ist ein Capitel aus Schopenhauers Nachlaß vorgelesen worden.
Auch der heutige Tag soll zu Ehren eines Meisters gefeiert werden. Ich bin nämlich zu einem Privatsouper im Hotel de Pologne eingeladen, um dort Franz Liszt’s Bekanntschaft zu machen. Neuerdings bin ich mit meinen Ansichten über Zukunftsmusik usw. etwas hervorgetreten und werde jetzt von den Anhängern derselben stark angebohrt. Sie wünschen nämlich, daß ich mich litterarisch in Ihrem Interesse betheilige, ich aber für mein Theil habe nicht die geringste Lust, wie eine Henne gleich öffentlich zu gackern; und es kommt hinzu, daß meine Herren Brüder in Wagnero meistens doch gar zu dumm sind und ekelhaft schreiben. Das macht, sie sind im Grunde mit jenem Genius schlechterdings nicht verwandt und haben keinen Blick für die Tiefe, sondern nur für die Oberfläche. Daher die Schmach, daß die Schule sich einbildet, der Fortschritt in der Musik bestünde gerade in den Dingen, die Wagners höchst eigenartige Natur wie Blasen hier und da aufwirft. Für das Buch „Oper und Drama“ ist keiner der Kerle reif. — Ich habe Dir noch nichts erzählt von der ersten Meistersingeraufführung in Dresden, von dieser größten künstlerischen Schwelgerei, die mir dieser Winter gebracht hat. Weiß Gott, ich muß doch ein tüchtiges Stück vom Musiker im Leibe haben; denn in jener ganzen Zeit hatte ich die stärkste Empfindung plötzlich zu Hause und heimisch zu sein, und mein sonstiges Treiben erschien wie ein ferner Nebel, aus dem ich erlöst war. Jetzt nun steht mir so ein tiefer, schwerer Nebel wieder bevor. Ich habe für das Sommersemester 2 Vorlesungen angekündigt priv. Geschichte der griechischen Lyrik mit Interpretation auserwählter Proben publ. Methodik und Quellenkunde der griech. Literaturgeschichte. Sodann habe ich den ganzen griechischen Unterricht in der dortigen Prima zu geben, und auch das philologische Seminar wird seine Zeit und Mühe beanspruchen. Und vor allem die Einsamkeit, die Einsamkeit ἄφιλος ἄλυρος! Augenblicklich lebe ich zerstreut ja genußsüchtig ein verzweifeltes Carnevale vor dem großen Aschermittwoch des Berufs, der Philisterei. Es geht mir nahe — aber keiner meiner hiesigen Bekannten merkt etwas davon. Die lassen sich blenden durch den Titel Professor und glauben ich sei der glücklichste Mensch unter der Sonne.
Liebster Freund, ich empfinde es immer mit dem tiefsten Mißmuth, daß wir nicht zusammen leben können. Wir beide sind Virtuosen auf einem Instrument das andre Menschen nicht anhören mögen und können, das uns aber tiefstes Entzücken bringt; und nun setzen wir uns jeder an eine einsame Küste, Du im Norden, ich im Süden und sind beide unglücklich, weil wir den Zusammenklang unsrer Instrumente vermissen und uns darnach sehnen. —
Nach diesem Adagio sollte billigerweise ein Scherzo folgen: hier hast Du eins. Vater Ritschl hat sich neulich ausführlich über Deinen Ὄνος ausgesprochen: natürlich hat er ihn im Manuscript gar nicht gelesen. „Das ist ein Academicus!“ sagte er und war ganz glücklich. Offenbar war seine Stimmung völlig umgeschlagen, er rühmte nicht nur die schöne μέθοδος und die ausgesuchte Gelehrsamkeit, sondern auch den geistreichen, weltmännischen Ton, mit dem sich jener Esel vernehmen läßt. Engelmann übrigens, jener ausgezeichnete Verleger und höchst achtbare Mensch, hat sich mehrfach angeboten, ja mir einen Besuch gemacht, so daß auch ich für meine Zukunftsschriften nicht erst nach Verlegern zu suchen habe. Hier, lieber Freund, haben wir beide einen guten Fang gethan.
Du hast übrigens einen Menschen glücklich gemacht, der heißt Wilhelm Roscher. Er sprang und jubelte und kam zu mir gelaufen, als er Deinen Brief bekam.
Zum Schluß noch ein guter Rath vom alten Ritschl. Hast Du nicht Lust, Dich in Göttingen (statt in Kiel) zu habilitiren? R<itschl> hält dies für sehr angethan, aus vielen Gründen.
Und so lebe wohl und verzeih dem Freunde, der sehr viel an Dich denkt und doch so selten schreibt. Ich bleibe noch bis zum 15ten März in Leipzig.
F. N.