1869, Briefe 1–633
5. An Elisabeth Nietzsche in Leipzig
<Basel, 29. Mai 1869>
Liebe Lisbeth,
später als ich wünschte finde ich Zeit und Gelegenheit Dir für Deinen Brief zu danken und Dir etwas Näheres über meine hiesigen Erfahrungen mitzutheilen. Zuerst hat es mich gefreut, daß Du Dich in Leipzig doch nicht unbequem fühlst und vielleicht doch den Nutzen und das Vergnügen finden wirst, auf das Du gehofft hast. Immerhin ist es eine aufrüttelnde und neue Anschauungen bietende Abwechslung, gegenüber dem trägen Pulsgange des Naumburger Lebens. An das Haus und die inneren Verhältnisse der Familie B<iedermann> wirst Du Dich, wie es scheint, gut gewöhnen; ich stand immer in einiger Entfernung, so daß ich mit den Launen und gelegentlichen Verstimmungen einzelner Familienmitglieder nichts zu thun gehabt habe. Beiläufig gesagt: dem Dienstmädchen habe ich zu Weihnachten 2 Thaler und bei meinem Weggange 3 Thaler gegeben: sonst nichts. Dies verpflichtet Dich zu nichts. —
Mache mir doch bald einmal das Vergnügen, recht viel über Leipziger Zustände, auch über die einzelnen Personen, die mich angehen zu schreiben und grüße in meinem Namen alle „wen Du nur immer Lust hast darauf hin anzureden. Der Frau Brockhaus erzähle, daß ich ihren Bruder Richard Wagner am Pfingstmontag besucht habe und einen sehr angenehmen Mittag und Nachmittag mit ihm und Frau v. Bülow verlebt habe. Tribschen ist ein allerliebstes Landhaus am Vierwaldstätter See, ½ Stunde von Luzern. Vorigen Freitag bekam ich eine Einladung seinen Geburtstag (22 Mai) dort zu verleben und auch dort zu logieren, konnte aber leider nicht aus Professorenverpflichtungen usw.
Ich bin also seit Anfang Mai in voller Thätigkeit an Universität und Pädagogium, habe aber erst gestern meine Antrittsrede gehalten „über die Persönlichkeit Homers“ in der großen Aula des Museums, vor einem vollen Auditorium. Meine Vorlesungen habe ich für alle Wochentage auf die Morgenstunde von 7—8 verlegt, und bin mit dieser Art von Thätigkeit zufrieden; auch gewöhnt man sich an den Übelstand, 8 Zuhörer zu haben, in Anbetracht daß es die gesammte Philologenschaft ist und sogar noch ein Theologe. In der Schule habe ich Vergnügen an einer verständigen Klasse und bilde mir ein, zum Schulmeister zwar nicht geboren, aber doch auch nicht verdorben zu sein.
Unsre Mittagstafel haben wir, nämlich 3 Collegen, bei Recher am Centralbahnhof: auch ißt ein Bekannter Biedermanns, ehemaliger Weimarischer Offizier und Redakteur, Hr v. Göckel mit uns. Viele Einladungen selbstverständlich, beispielsweise zu Sonntag, Dienstag, Mittwoch Donnerstag in nächster Woche. Eine sehr angenehme deutsche Familie die des Direktor der sämmtlichen Versicherungsgesellschaften Gerkrat; sodann die vom Rathsherrn Vischer. Bei letzterem habe ich Zutritt zu den bewußten Familienabenden alle Dienstage. Neulich haben wir dort ein großes deutsches Zauber und -Gartenfest gefeiert und schließlich schwarzen Peter und Schreibespiele gespielt: Publikum lauter Professoren und eine Menge Damen. Auch eine Generalin von Hardegg (Gatte Gouverneur des Königs von Würtenberg), die mir warme Grüße von Fr. von Grimmenstein brachte. — Ich habe einen prachtvollen Flügel gemiethet (und billig) Mein näherer Umgang ist Jakob Burkhardt, bekannter Aesthetiker und Kunsthistoriker und geistvoller Mensch: frage Biedermannen. — Mit den besten Grüßen und Wünschen von
Deinem Bruder.