1869, Briefe 1–633
22. An Erwin Rohde in Sorrento
<Badenweiler, 17. August 1869>
Mein lieber Freund,
der letzte Ferientag. Alte begrabne Empfindungen wachen auf. Mir ist zu Muthe, wie es dem Tertianer zu Muthe ist, der sentimental wird und Gedichte über die Vergänglichkeit des irdischen Glücks macht, wenn er den Glockenschlag des letzten Ferientages hört. Ach lieber Freund, ich habe doch wenig Vergnügen und muß alles so einsam in mich hineinkauen. Ja ich würde auch die böse Dysenterie nicht scheuen, wenn ich durch sie mir ein abendliches Gespräch mit Dir erkaufen könnte. Wie wenig sind Briefe. Da habe ich mir gestern eine schöne Stelle vom alten Goethe gemerkt
„wie köstlich ist des gegenwärt’gen Freundes
„gewisse Rede, deren Himmelskraft
„ein Einsamer entbehrt und still versinkt.
„Denn langsam reift, verschlossen in dem Busen,
„Gedank’ ihm und Entschluß; die Gegenwart
„des Liebenden entwickelte sie leicht.“
Sieh das ist es: wir brauchen ewig Hebammen, und um sich entbinden zu lassen, gehen die Meisten ins Wirthshaus oder zum „Collegen“ und da purzeln dann wie die kleinen Katzen die Gedanklein und Plänlein heraus. Wenn wir aber trächtig sind, da ist niemand zu Hülfe, der uns bei der schweren Geburt beisteht: und finster und morose legen wir dann unsern derben ungestalten neugebornen Gedanken in irgend eine dunkle Höhle; das Sonnenlicht der Freundschaft fehlt ihm.
Doch mit meinen ewigen Reden über Einsamkeit werde ich noch ganz zum Zimmermann; und keine freundliche Maria will sich mir gesellen. „Das Öchslein und das Eselein, die lobten Gott den Herren fein.“ Da liegts! Nur ein wenig Rindvieh, und die Weltharmonie ist hergestellt, das Gebäude ist gekrönt. Weißt Du, die Schäfer und Schafe sahen den Stern; für uns andere ist alles dunkel.
Z.B. Tischendorf: er sah den Stern und lief ihm so schnell nach, bis er sich ihm auf die Brust setzte. Nun hat er für seinen kleinen Verdruß herrliche Ehren, bis in’s vierte Glied. Ja, ja quod licet bovi!
Dafür will ich Dir noch etwas von meinem Juppiter erzählen, von R. Wagner, bei dem ich von Zeit zu Zeit aufathme und mich mehr erquicke, als sich meine ganze Collegenschaft vorstellen kann. Das Menschenkind hat noch keinen Orden und jetzt eben die erste Auszeichnung bekommen, nämlich die Ehrenmitgliedschaft der Berliner Akademie der Künste. Ein fruchtbares, reiches, erschütterndes Leben, ganz abweichend und unerhört unter mittleren Sterblichen! Dafür steht er auch da, festgewurzelt durch eigne Kraft, mit seinem Blick immer drüber hinweg über alles Ephemere, und unzeitgemäß im schönsten Sinne. Da hat er mir kürzlich ein Manuscript gegeben „über Staat und Religion“, bestimmt als Memoire an den jungen Baiernkönig, von einer Höhe und Zeitentrücktheit, von einem Edelsinn und Schopenhauerischem Ernst, daß ich König zu sein wünschte, um solche Ermahnungen zu bekommen. Neulich habe ich ihm übrigens ein paar Stellen aus Deinen Briefen zugeschickt, für Frau von Bülow, die mich mehrfach drum gebeten hatte. Als ich das vorletzte Mal dort war, kam gerade in der Nacht meines Aufenthaltes ein kleiner Junge zur Welt, „Siegfried“ zubenannt. Als ich das letzte Mal dort war, wurde Wagner gerade fertig mit der Composition seines „Siegfried“ und war im üppigsten Gefühl seiner Kraft. — Du willst ihm nicht schreiben? Du glaubst er hat über genug an entzückten Laien. Aber Du sollst auch nicht als Musiker schreiben, sondern als gleichgestimmter ernster Mensch: von solchen hat er nur sehr selten eine Kundgebung und ist jedes mal wie über einen Fund glücklich. Du bist ihm auch bereits kein Fremder mehr. Adresse: Herrn Richard Wagner in Tribschen bei Luzern (Beim Hund! Jetzt habe ich doch schön die Buchstaben gemalt: weißt Du, ich habe Dir einmal ein Buch von Grey empfohlen und Du hast Grog gelesen.) Hast Du eigentlich meinen letzten Brief (mit meiner Photographie) bekommen, den ich nach Neapel poste restante geschickt habe? Ich bin mißtrauisch.
Adieu theuerster Freund!
Fried. Nietzsche.
Für die liebenswürdige Collation bin ich Dir sehr verbunden. Romundt ist Dr. phil. Meine Rede über Homer (die in Leipzig sehr gefallen hat) bekommst Du bei Deiner Rückkehr.