1871, Briefe 118–182a
181. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Basel, 27. Dezember 1871>
Meine liebe Mutter und Schwester,
endlich, das heißt seit einer Stunde bin ich im Besitz Eurer herrlichen Weihnachtsgeschenke und sofort drängt es mich Euch auf das Herzlichste dafür zu danken. Wie lange hat aber die Post gezögert? Heute ist Mittwoch. Schon hatte mir der vorausgeschickte Brief etwas verrathen, im Grunde aber doch recht wenig: denn ich wurde beim Auspacken in jeder Hinsicht überrascht. Der Tapezierer hat mir geholfen, und ohne allen Anstoß ist das wunderschöne Bild in seiner prachtvollen Umrahmung herausgekommen, nach einiger Mühe: denn es war sehr gründlich verpackt und vernagelt. Auch hatten wir wieder, wie das mir jedesmal zu gehen pflegt, die falsche Seite des Kastens zuerst abgenagelt. Auch wunderte ich mich über die theure Rechnung der Post, die für den Transport ich glaube gegen 18 frs. verlangte. Es ist doch sehr theuer, so fern von einander zu wohnen. Heute Nachmittag werden die Bilder in meiner Stube umgehängt, natürlich kommt die Madonna über das Sopha, über das Pianino kommt ein Bild von Holbein, nämlich der große Erasmus, den mir die jungen Vischers am Weihnachtsabende bei der Bescheerung geschenkt haben. Daraus erfahrt Ihr, wo ich an jenem Abend war: heute bin ich zur Bescheerung zu Bachofens und für den Sylvesterabend zur Bescheerung zu den alten Vischers eingeladen: so daß ich dreimal den Weihnachtsbaum erlebe. Für den Freitag Mittag hat mich der alte Stähelin nach Liestal engagirt.
Dies ist mein Festprogramm: nun fahre ich fort, Eure Geschenke zu preisen. Die Madonna della Sedia ist ein herrliches Bild: meine Stube wächst und steigert sich immer mehr. Ich zweifle bereits ob meine kleinen eiförmigen schwarzen Studentenbilder einer solchen Stube noch würdig sind. Diese werden jetzt, mit Papa Ritschl und mit Schopenhauer, über dem Büchertisch neben den Ofen gruppirt. Also — das Bild hat einen großen Effekt bei mir gemacht und ich danke Dir recht von Herzen, liebe Lisbeth. Auch scheint es mir als ob solch ein Bild unwillkürlich nach Italien zöge — und fast meine ich, Du hast es mir als ein Lockmittel dazu geschenkt. Ich kann auf diesen apollinischen Effekt gar nicht anders antworten als durch meinen dionysischen dh. die Sylvesternacht und sodann durch den apollinisch-dionys. Doppeleffekt meines Buches, das um Neujahr erscheint und das Du von Fritzsch direkt aus Leipzig bekommen wirst. Er hat schon seit 3 Tagen diesen Auftrag.
Nun gehe ich weiter und erzähle die Wirkung, die die schönen rosa-Paketchen von meiner lieben Mutter auf mich gemacht haben. Bei dem schönen Juchtenleder dachte ich mir, daß Ihr mich doch sehr verwöhnt: wo soll das noch, bei so aristokratischen Tendenzen, hinaus! Übrigens war mir eine solche Schreibmappe sehr nöthig, und der erste Brief, den ich auf ihr schreibe, gilt Dir, meine liebe Mutter. Ebenso nützlich und erfreulich war der gute Kamm die Haarbürste, die Kleiderbürste (die nur etwas zu weich ist) die angenehmen Strümpfe und die große Menge schmackhafter Leb- und Pfefferkuchen, alles gleichmäßig schön und festlich verpackt. Nicht zu vergessen die Hosenträger! Es war zu der Fatalität erst gestern gekommen, daß beide anderen alten Hosenträger endgültig zerrissen, so daß ich ohne dieselben ausgehen mußte. Also kommen die neuen im rechten Augenblick: „wenn die Noth am größten, sind die Hosenträger am nächsten“ dachte ich mir, als ich sie auspackte. Für Alles zusammen empfange meinen herzlichsten Dank; ich habe mich sehr gefreut und freue mich noch, wenn das Parfüm meiner Unterlage zu meiner Nase dringt. Deutlicher als durch diesen Geruch kann man nicht an ein Geschenk erinnern: wie oft werde ich also noch erinnert werden!
Nun sind wir also an der Grenze des Jahres. Ich denke mit Beruhigung daran und scheide dankbar von diesem Jahre. Ihr sollt es noch erleben, wie es für mich in einem gewissen Sinne Epoche macht. Meine Schrift erscheint nächstens: mit ihr beginne ich das neue Jahr und jetzt wird man wissen, was ich will, wonach ich mit aller Kraft strebe: meine Thätigkeit beginnt. Es waren schöne Stunden, in denen diese Schrift entstand: es war ein gutes Jahr, trotz seines bedenklichen Anfangs. Bald kam die Gesundheit wieder: und was für schöne erwärmte Zeiten aus Lugano und Basel und Naumburg und Leipzig treten mir jetzt vor das Auge!
Allen, die mir wohlwollend gesinnt sind — und wem mehr als Euch? — danke ich von Herzen an einer solchen Jahresgrenze und wünsche Euch und mir ein glückliches Neujahr in alter Kraft, in alter Liebe, meine liebe Mutter, liebe Schwester!
Euer Fritz.