1871, Briefe 118–182a
135. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel 7. Juni 1871>
Mein lieber, um so getreuerer Freund,
als ich durch mein sträfliches Nichtschreiben wirklich die schwärzesten Gedanken bei Dir erwecken könnte; und sie doch, wie Deine Briefe bezeugen, bei Dir nicht wachsen wollen. Im Grunde würde mir auch Unrecht geschehn, wenn Du mich nach dem Thermometer der Briefe bemessen wolltest. Nach Deinem vorletzten, mich wahrhaft ergreifenden Briefe war ich gänzlich unvermögend, zu schreiben; ich freute mich innerlich und täglich unseres Einvernehmens und unseres gemeinsamen, trotz der Entfernung ungestörten und unisonen Fortschreitens auf gleichen Bahnen, für welches Deine Bemerkungen über das Dionysische geradezu ominös sind, wie früher einmal unsre unbewußt gleichzeitigen Studien der Romantiker.
Wie schwer ich das Loos nehme, von Dir jetzt getrennt zu sein, wissen am stärksten die Tribschener Freunde, die von Dir die allerbesten Meinungen und Hoffnungen haben.
Könnten wir nun nicht ein Mittel finden, Dich etwa nach Zürich zu bringen, welches Benndorf im Herbst verlassen wird? Ich will mich einmal nach den dazu nöthigen Schritten erkundigen, auch in diesen Tagen einmal an Ritschl schreiben.
Im Herbst komme ich, aus den bewußten Gründen, nicht nach Leipzig. Um so nöthiger ist es, unsre Sommerpläne festzuhalten.
Mir ist nun, bei häufiger Angegriffenheit und Schlaflosigkeit, sehr gerathen, hohe Alpenluft aufzusuchen: und ich habe mich schon in einer kleinen Pension im Berner Oberland mit meiner Schwester angemeldet. Ich gehe dorthin am 15 Juli und bleibe bis 14 August: dann giebt es Sommersemester, zweite Hälfte, bis Ende September. Es fehlt mir dies Jahr an Geld, wegen meines Frühlingsaufenthaltes in Lugano; und ich muß mich deshalb im Sommer sparsam einrichten. In jener Pension zahle ich für Alles 4 frs.
Mir erscheint es nun höchst wichtig, mit Dir mich einmal ernsthaft und anhaltend über mehrere Pläne zu verständigen. Brieflich kann ich nichts sagen. Ich rechne bei allen meinen Absichten, besonders im Punkte des Erziehungswesens, vor Allen auf Dich und zuerst immer allein auf Dich. Dann fällt mir mitunter ein, daß für solche Dinge nichts wichtiger ist, als uns gemeinsam hineinzuleben: während ich bis jetzt Dich noch nicht einmal oberflächlich benachrichtigt habe. Dann aber klingt mir aus jedem Deiner Briefe, so auch wieder aus dem letzten, eine so verwandte, innerlich vertraute „Melodei“ entgegen, daß ich immer meine, auch unsre Pläne müßten, auch ohne gegenseitige Verständigung, dieselben sein.
Mein Büchlein, dessen Geburt ich Dir von Lugano aus mit rechtem Gegacker — so ich mich recht erinnere, ankündigte, ist bis jetzt an der Verlegernoth verkümmert. Ein Aufsätzchen habe ich ausgeschält und es auf meine Kosten in Basel drucken lassen: es ist die Umarbeitung jenes früheren Vortrags „Sokrates und die Tragoedie“. Ein anderes Stück „über das Dionysische und Apollinische“ wird wohl in den „Preußischen Jahrbüchern“ erscheinen; falls man es annimmt, woran ich zweifle. Schließlich läuft bei mir alles auf das theure Vergnügen hinaus, eine Bibliothek lauter unedirter, doch zierlich gedruckter Schriftchen zu besitzen. — Meine Homerrede hast Du doch? Ich freue mich auch auf eine Homerunterhaltung mit Dir. Jetzt lese ich „Einleitung und Encyclopädie“, zum Staunen meiner Zuhörer, die sich schwerlich in dem Bilde wiedererkennen, das ich von dem idealen Philologen entwerfe.
Vorgestern habe ich Kinkel junior, sehnsüchtigen Privatdozenten in Zürich (doch ohne Perspektiven) wieder gesehn, nach fünf Jahren. Ein anderer Züricher Dozent, der zu unserer Zeit in Leipzig studirte und uns — natürlich — kannte, versetzte mich lebhaft in jene schöne Epoche. Er hatte eine so treue Erinnerung von unserem Wesen und Reden, citirte zB. Ansichten von mir, die ich im Colleg zu meinen Bekannten — doch wohl überlaut — geäußert haben muß, kurz bewies mir, wie anerkannt unsere Situation war. Er hieß Dr. Gröber. Von Wölflin habe ich das Allerbeste über die „Acta“, speziell Andresens Aufsatz gehört, desgleichen von Hagen, über Jungmann, und beide, listiger Weise, zu einer Recension „gesteigert.“
Die Absicht der Berliner Reise Wg’s war, den akademischen Vortrag zu halten und seine Baireuther Pläne zu sichern: dahingegen einer drohenden Berufung als Generalmusikdirektor auf jede Weise vorzubeugen. Alles ist gelungen, und in 2 Jahren erleben wir die Aufführung des „Nibelungenringes.“ — Wie schön und richtig hast Du die Meistersinger empfunden! — Ich habe mit Wagner die vorläufige Idee eines Reformations-journals besprochen, wobei wir auch Deiner vor Allem gedachten. Kurz, Vieles ist im Werk: wir wollen uns in Allem treu bleiben. Lebwohl, liebster Freund.