1871, Briefe 118–182a
138. An Friedrich Ritschl in Leipzig
Samstag Mittag. <Basel, 17. Juni 1871>
Verehrtester Herr Geheimrath,
hier, zunächst dem herzlichen Bedauern über das Befinden Ihrer Fräulein Tochter, nur etwas Vorläufiges: von Tag zu Tag bekommen Sie mehr von mir zu hören. Heute habe ich nur wenig direkt ermitteln können, aber verschiedene Fäden angeknüpft, um schon morgen im Besitze genauerer Details zu sein.
Die mir am besten bekannten Familien sind zufällig nicht in Ragaz gewesen oder in einer Zeit, die über den jetzigen Zustand keine Schlüsse zuläßt. Die eigentlich „Kranken“ sind zudem meistens in dem — übrigens melancholisch düsteren — Pfäffers gewesen.
Ragaz gilt als „warm“ (doch nicht im Sinne eines Leipziger Sommers), hat weniger trübe und regnerige Tage als die hohen Kurorte und gestattet, bei seiner freien Lage, Spaziergänge in der Ebene: der schönste Weg, fast eben, nach dem genannten Pfäffers, ist schattig und schön. — Sind nicht die Naumburger Wachsmuths einmal im Sommer und auch neuerdings dort gewesen? — Frau Vischer hat mir aus dem Kreise ihrer Verwandten baldige und spezielle Nachrichten versprochen: desgleichen ihr Schwiegersohn, Hr. G. Fürstenberger, der einen mehrere Jahre in Ragaz thätig gewesenen und daher genau unterrichteten Baseler Architekten (oder Ingenieur?) Frey kennt. Dabei kam eine Pension zur Sprache, die ein ehemals in Basel studirender Pfarrer Steiger besitzt und die etwa 10 Minuten von Ragaz entfernt ist. R. hat übrigens den Ruf eines unterhaltenden aber theuren Bades; es giebt sehr schöne neue Hotels und vortreffliche Bäder. (Ärztlich—Genaues bei Meyer-Ahrens, „die Heilquellen der Schweiz“, das Ihre Universitätsbibliothek besitzen muß.) Ein ausführliches Buch über Ragaz wird diese Tage bei Ihnen eintreffen. Pensionseinrichtungen sind überall, wohl mit Ausnahme des allerersten Hotels; die Preise etwas höher als in Interlaken. Über diesen Punkt verspreche ich noch genaue Informationen.
Von den 15 Personen, die ich heute über R. ausgefragt habe, ist bald etwas zu erwarten: worauf ich Sie heute vertrösten muß. Auch werde ich in Erfahrung bringen, wer von den Baselern diesen Sommer nach R. geht. Die Quellen gelten als sehr heilkräftig, trotz ihres totalen Mangels nachweisbarer Grundelemente. —
„Schwyzerwirthschaften“, im angedeuteten Sinne, sind dort gar nicht mehr anzutreffen. „Gute Gesellschaft“ ist viel wahrscheinlicher als das Gegentheil: so daß man gewiß auch auf „gute Geselligkeit“ rechnen darf.
Mit der Bitte, heute mit diesem Prooemium fürlieb zu nehmen, verheißt Ausführliches
Ihr getreuer
F Nietzsche.