1871, Briefe 118–182a
134. An Wilhelm Vischer (-Bilfinger) in Basel
Basel Samstag. <27.Mai 1871>
Verehrter Herr Rathsherr,
ich muss mich sehr entschuldigen, dass ich gestern die Sitzung der Conferenz des Paedagogiums versäumt habe; durch einen Zufall ist mir die Einladung dazu erst eine Stunde nachher, als es bereits zu spät war, zu Gesicht gekommen. —
Die Nachrichten der letzten Tage waren so schrecklich, dass ich gar nicht mehr zu einer auch nur erträglichen Stimmung komme. Was ist man, solchen Erdbeben der Cultur gegenüber, als Gelehrter! Wie atomistisch fühlt man sich! Sein ganzes Leben und seine beste Kraft benutzt man, eine Periode der Cultur besser zu verstehen und besser zu erklären; wie erscheint dieser Beruf, wenn ein einziger unseliger Tag die kostbarsten Documente solcher Perioden zu Asche verbrennt! Es ist der schlimmste Tag meines Lebens. —
Meine Absicht war, Pfingsten zu verreisen: aber ich fühle mich nicht wohl und bleibe hier. Am Mittwoch hatte ich mit Wagner, der mich begleitete, gehofft, Sie vielleicht auf dem Bahnhofe in Luzern zu sehen.
Übrigens, hat mir der Wirth in unserem Hôtel bei meiner Abreise, die etwas eilig war, die Rechnung nicht gebracht; ich darf Sie wohl bitten, dass Sie mir die halbe Summe Ihrer Rechnung gelegentlich einmal angeben.
Ich komme in diesen Tagen zu Ihnen, um mich nach dem Resultat der Luzerner Candidatur zu erkundigen.
Ihr sehr ergebener
Friedr Nietzsche.