1871, Briefe 118–182a
169. An Richard Wagner in Tribschen
Basel 18 Nov. 71.
Verehrtester Meister,
heute endlich hat mir unser Fritzsch aus Leipzig Nachricht gegeben, nachdem ich lange in gänzlicher Befremdung über sein Schweigen dahin gelebt habe, ohne recht zu wissen, was ich zu thun hätte. Jetzt erfahre ich, dass er mein Manuscript sofort, noch bevor Ihre empfehlenden Zeilen eingetroffen waren, an einen Mitarbeiter seines Blattes zur kritischen Einsicht übersandt hatte: als welcher Bummler dasselbe bis zum 16 November zurückgehalten hat. Jetzt soll nun schnell losgedruckt werden; in welcher Beziehung Fritzsch vortreffliche Versprechungen macht. Dann kommt ein Passus, den Sie mir vielleicht mit einem Worte erklären können. Fritzsch schreibt mir: „über die Honorarfrage werden Sie unterdess selbst nachgedacht haben, vielleicht dass Ihnen in dieser Hinsicht Herr Wagner einige Andeutungen gemacht hat.“
Hier würden Sie mich gänzlich in ungeheure Inschriftenwerke versteckt finden, aus denen ich für meine Studenten eine lateinische Epigraphik zusammenbraue oder von Hunderten von platonischen Schriften umringt, mit deren Hülfe ich meine Zuhörer in das Studium Plato’s einführe. Hebe ich das Ohr einmal aus diesem Bücherhaufen empor, so höre ich sofort etwas, was in Bologna vorgeht oder in der Stadtverordnetenversammlung von Baireuth berathen ist, oder die „Academy“ präsentirt sich mir, mit einem neuen Aufsatz von Franz Hüffer, dem verkappten Engländer, oder auch ein erstaunliches Inserat mit dem Namen meines Freundes Gersdorff oder eine Besprechung von Fuchs Präliminarien der Tonkunst etc. Kurz, auch nur ein massiges Hinhorchen genügt jetzt, um über die grossen äusseren Züge Ihrer Existenz unterrichtet zu bleiben.
Von meinem letzten Tribschener Besuche habe ich die wärmste und herzlichste Erinnerung und weiss, was ich meinen Dämonen schuldig bin: denen ich neulich ein Dankopfer brachte, mit einer Spende rothen Weines und den gesprochnen Worten Χαίρετε Δαίμονες: eine Feierlichkeit, die zugleich in Basel, Berlin und Kiel stattfand und bei deren Vollziehung wohl jeder von uns auch Ihrer gedacht hat: denn was bitten wir von den Dämonen, was danken wir ihnen, was nicht mit Ihnen auf das Innigste und Nächste zusammenhängt?
Ihr getreuer
Friedrich Nietzsche.