1871, Briefe 118–182a
153. An Paul Deussen in Marburg
Basel 12 Sept. 71.
Mein lieber Freund, nicht wahr, Du bist noch Willens, Dich einmal für Philosophie zu habilitieren?
Seitdem ich dies weiß, denke ich immer daran, wie Deine Lage etwas zu erleichtern sei: und heute fällt mir eine Proposition zu, die Dir vielleicht nützen könnte. Man fragt bei mir an, ob ich jemanden wüßte, der sich für 4 Jahre unter folgenden Bedingungen zu einer Erzieherstelle verpflichten würde.
Es gilt in einer russischen Familie zu leben und zwar für den Winter in Florenz. Ein begabter, doch etwas verwöhnter Knabe von 13 Jahren ist zu unterrichten und zwar in Englisch, Lateinisch und Deutsch. In der Familie wird französisch gesprochen. Dieses Sprachenaggregat macht ja Dir keine Schwierigkeiten. Der Gehalt ist hoch., 3000—4000 frs. also c. 1000 Thaler. Natürlich völlig freie Station.
Dadurch würdest Du nun für 4 Jahre der Vorbereitung ein fast freier Mann und könntest fast ganz Deinen philosophischen Vorbereitungen leben. Du könntest fast die ganze Summe Dir, bei Deinen außerordentlich mäßigen Lebensansprüchen, ersparen, um Deine Privatdozentenlaufbahn, so kurz sie auch sein wird, als Rentier zu beginnen. Kurz, Du gewinnst Zeit und Geld, nicht zu reden von dem Werthe eines Aufenthaltes in Italien, Schweiz usw.
Schreibe mir, nach kaltblütiger Überlegung aber so rasch als möglich eine Antwort. Denn die eine Bedingung wäre, daß Du diesen Winter bereits antrittst. Dazu müßtest Du Deine Schulmanncarrière mit rascher Faust abschließen.
Also werther und lieber Freund! Schnell! Ja! oder Nein!
Ich selbst habe beschlossen Dich in diesem Herbst zu sehn. Ich reise nach Norddeutschland und werde etwa am 20 Oktober über Marburg nach Basel zurückkehren.
Ich freue mich herzlich Dich wieder zu sehen. —
Richte meine besten Grüße an Deine ausgezeichnete Familie aus. —
Noch anderthalb Wochen bin ich in Basel. Während dieser Zeit, ja in den nächsten Tagen muß Deine Antwort dasein. — Nimm die Sache nur nicht feierlich. Es soll kein Entschluß, aber ein lustiges Wagniß sein.
Si nihil est, lusisse videmur.
Die Kunde von Deinem theologischen Examen hat mich in Erstaunen versetzt. Mehr sage ich erst, nachdem ich Dich wieder gesehn habe.
Hast Du den „Sokrates“ noch einmal gelesen?
Auf Wiedersehn, lieber,
alter Freund und Ka-
merad!
Friedr Nietzsche.