1873, Briefe 287–338a
338. An Erwin Rohde in Hamburg
Naumburg am Sylvestertage 1873-74.
Lieber guter Freund, wie hast Du mich durch Deinen Brief erquickt, zumal ich zu Bette lag, erkrankt von der Reise und dem Leben etwas gram. Wirklich, wenn ich nicht meine Freunde hätte, ich möchte wissen, ob ich mich nicht selbst für verdreht halten müsste; so aber halte ich durch Euch mich selbst, und wenn wir uns uns gegenseitig Gewähr leisten (sieh einmal welches schöne „uns-uns“), so muss am Ende doch etwas bei unserer Art zu denken herauskommen: woran bis jetzt alle Welt zweifelt.
Zum Beispiel auch Ritschl’s, denen ich einen kurzen Besuch machte und die in einer halben Stunde ein schnell gesprochnes Wort-Feuer gegen mich los liessen, bei dem ich sehre unverwundet blieb und mich auch so fühlte; am Schluss blieb man dabei, ich sei hochmüthig und verachtete sie. Gesammteindruck war hoffnungslos: der alte Ritschl fing einmal rasend über Wagner als Dichter zu schimpfen an, dann wieder einmal über die Franzosen (ich gelte als Bewunderer der Franzosen), endlich schimpfte er, nach Hörensagen, aber in der gräulichsten Weise über Overbeck’s Buch. Ich erfuhr, dass Deutschland in den „Flegeljahren“ sei: weshalb ich mir auch das Recht nahm, etwas Flegel sein zu dürfen (nämlich meine Maasslosigkeit und Rohheit gegen Strauss wurde gerügt) Dagegen ist Strauss als klassischer Prosaschreiber wirklich vernichtet: denn Papachen und Mamachen Ritschl sagen es und fanden auch schon den „Voltaire“ greulich stylisirt. —
Bei Fritzsch wohnte ich und habe wirklich herzliche Freude an diesem guten Menschen gehabt. Es geht ihm ganz gut, auch mit der Gesundheit. Meine zweite Ungemässheit (oder Unmässigkeit) ist im Druck: in den nächsten Tagen wirst Du den ersten Druckbogen erhalten: denn, liebster Freund, ich nehme Deine bereitwillige Güte in Anspruch und bitte Dich sogar darum, mir an der und jener Stelle meiner Schrift mit Deinem Rathe und Deiner moralisch-intellectuellen Correctur zu Hülfe zu kommen. Übrigens haben wir keine Zeit zu verlieren: es wird schnell gedruckt, und Ende Januar muss alles fertig sein.
Also, lieber Guter, sende immer recht schnell Deine Correctur nach Basel; denn freilich ist es etwas umständlich bei den grossen Entfernungen, und wir müssen zusehen, dass in der Druckerei keine Stockung eintritt.
Ausstattung wie bei Nr. 1. Wenn dieser Druck vorüber ist, beginnt der Neudruck von „Geburt der Tragödie“.
Ich höre mit grosser Freude, dass der „Roman“ sich bewegt und hebt und an der einschliessenden Eierrinde knappert. — Wen hast Du als Verleger im Auge, den Kieler Bekannten?
Gersdorff hat wieder das Manuscript der Nr. 2 geschrieben, er ist ein ganz und gar rührender und unschätzbarer Freund. Ich habe in diesen Tagen mein Schlusscapitelchen zu machen und möchte gerne heute und morgen fertig werden. Gesundheit schwankend und mittelmässig: vom Neujahr an soll es wirklich besser werden. Denn wenn man keine Gesundheit hat, soll man sich eine anschaffen.
Unbändige Freude hatte ich über Karl Hillebrand’s anonym erschienene „zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers“ (Berlin Oppenheim 1874); welches Labsal! Lies staune, es ist einer der Unsrigen, einer von der „Gesellschaft der Hoffenden“.
Möge diese Gesellschaft im neuen Jahre blühen, mögen wir gute Gesellen bleiben. Ach, mein Getreuer, es bleibt Einem gar nicht die Wahl: man muss Hoffender sein oder Verzweifelter. Ich habe mich ein- für allemal für das Hoffen entschieden.
Über die greulichen vorsichtigen akademischen Confratres in Kiel habe ich mich recht geärgert; diese Angst vor der „Jugend“!
Nun ich habe Rache genommen und der Jugend im Schluss meiner Nr 2 ein Lied gesungen, das dieser Art von knicklichkricklichen Greueln recht elend wehe thun wird.
Grüsse Deine verehrte Mutter; die Meinigen sagen Dir auch Viel Glück zum neuen Jahre!
Und so mögen wir uns gut und treu bleiben
1874 und so weiter bis an der
Tage letzten.
Dein Friedrich N