1873, Briefe 287–338a
302. An Malwida von Meysenbug in Florenz
Basel 5 <6.> Apr. 1873
Verehrtestes Fräulein, wie gerne möchte ich diese Ostern bei Ihnen verbringen und wie dankbar habe ich Ihre Einladung empfangen. Wenn ich auch nicht helfen könnte Sie zu trösten, so wäre es mir doch hier und da gelungen Sie zu zerstreuen und Ihr Nachdenken irgendwohin abzulenken. Nun muß ich leider so festgebunden sein, daß ich nur für die allerkürzesten Termine (von 8-12 Tagen) um Ostern herum etwas Freiheit habe: das hängt davon ab, daß ich außer meiner Universitätsstellung noch das Amt eines griechischen Lehrers in der obersten Klasse des Pädagogiums inne habe und somit den langweiligen Quälereien schriftlicher und mündlicher Schulexamina usw. ausgesetzt bin. Die freie Zeit ist also zu kurz, um nach Florenz reisen zu können: wie oft habe ich das beseufzt! Denn ich habe wirklich das herzlichste Bedürfniß, Sie jetzt zu sehen und zu sprechen und würde jedenfalls nur Ihretwegen (und nicht irgendwelcher Malereien halber) nach Florenz gekommen sein.
Wenn ich mir besonders noch denke, daß Ihre Gesundheit noch nicht wiederhergestellt ist und daß Sie zu der Fülle von Seelenschmerzen und Beunruhigungen höchst überflüssiger Weise auch noch leiblich gequält werden, so fühle ich in mir so recht die Ohnmacht des Helfenwollens aber nicht -könnens! Hoffentlich schreibt Ihnen Frau Olga M<onod> das Beste und Beruhigendste, vor allem recht oft und ausführlich.
Heute Abend reise ich ab, rathen Sie wohin? — Sie haben es errathen. Und zwar treffe ich dort, um das Glücksmaß voll zu machen, mit dem Besten der Freunde, mit Rohde zusammen; morgen Nachmittag halb vier sitze ich im Hause an der Dammallée und bin ganz glücklich. Wir werden viel von Ihnen sprechen. Dann von Gersdorff, dem „taumelnden Cavalier“, wie ihn W<agner> nennt. Was Sie mir erzählen von einer Abschrift, die sich Gersdorff von meinen Vorträgen gemacht hat, ist geradezu rührend und gar nicht zu vergessen. Was ich für gute Freunde habe! Es ist ordentlich beschämend. In Bayreuth hoffe ich wieder Muth und Heiterkeit mir zu holen und mich wieder in allen Rechten zu befestigen. Mir träumte diese Nacht, ich ließe mir den Gradus ad Parnassum neu und schön einbinden; diese buchbinderische Symbolik ist doch verständlich, wenn auch recht abgeschmackt. Aber es ist eine Wahrheit! Von Zeit zu Zeit muß man sich, durch den Umgang mit guten und kräftigeren Menschen gewissermaßen neu einbinden lassen, sonst verliert man einzelne Blätter und fällt muthlos immer mehr auseinander. Und daß unser Leben ein gradus ad Parnassum sein soll, ist auch eine Wahrheit, die man sich öfters einmal sagen muß. Mein Parnassus der Zukunft ist, wenn ich mich sehr anstrenge und einiges Glück, sowie viel Zeit habe — vielleicht ein mäßiger Schriftsteller zu werden, vor allem aber immer mehr „mäßig im Schriftstellern“. Ich habe von Zeit zu Zeit eine kindliche Abneigung gegen bedrucktes Papier, das mir dann nur wie beschmutztes Papier gilt. Und ich kann mir wohl eine Zeit denken, in der man es vorzieht wenig zu lesen, noch weniger zu schreiben, aber viel zu denken und noch viel mehr zu thun. Denn alles wartet jetzt auf den handelnden Menschen, der jahrtausendalte Gewohnheiten von sich und anderen abstreift und es besser vormacht, zum Nachmachen. In meinem Hause entsteht eben etwas voraussichtlich sehr Rühmliches, eine Charakteristik unserer jetzigen Theologie, hinsichtlich ihrer „Christlichkeit“: mein Freund und Gesinnungsbruder Prof. Overbeck, der freieste Theolog, der jetzt nach meinem Wissen lebt und jedenfalls einer der größten Kenner der Kirchengeschichte, arbeitet jetzt an dieser Charakteristik und wird, nach allem, was ich weiß und worin wir einmüthig sind, einige erschreckende Wahrheiten bekannt machen. Allmählich dürfte Basel ein Bedenken erregender Ort werden. — Nun wird es dunkel, ich muß an die Abreise und das Einpacken denken und Sie verlassen, verehrteste und innig bedauerte Freundin. Wäre es doch wenigstens zur Abreise nach Florenz!
In Treue
der Ihrige
Friedrich Nietzsche