1873, Briefe 287–338a
317. An Carl Fuchs in Berlin
Basel 30 Sept. 1873
Lieber Herr Doctor!
Hier kommt ein Lebenszeichen, aber auch nichts mehr, nicht einmal ein Zeichen wieder hergestellter Sehkraft: denn auch jetzt noch bediene ich mich der nachschreibenden Gefälligkeit eines vertrauten Freundes. Ja, ich nehme mir nicht einmal vor, Ihnen auf so zahl- und inhaltsreiche Briefe zu antworten, da ich im Respondieren und Correspondieren nie etwas getaugt habe und jetzt aus einer früheren Untugend eine Pflicht zu machen fast gezwungen bin. Verzeihen Sie es mir also, wenn ich dies Mal in Bausch und Bogen für alle Ihre Briefe nur danke und nichts als danke. — Und wundern Sie sich nicht, wenn mit diesem Gedankenstrich auch der Dank schon vorüber ist und wir nun sofort auf lauter Neues übergehen. Das Neueste aber ist die Zusendung Ihrer Arrangier-meisterstücke. Ich fühle das, was Sie hierin geleistet haben, fast wie eine Befriedigung meiner Finger, so ungeschickt dieselben auch sein mögen und so sehr auch diese nur ahnen können, was andere Finger wahrscheinlich wissen werden. Drücken Sie doch ja dem Herrn Riemenschneider meine Sympathie und meine Überraschung über seine musikalischen Nächte aus. Ihnen selbst aber als dem Freunde des Componisten darf ich wohl etwas Genaueres über den Grad meiner Sympathie sagen. Mit der Julinacht nämlich bin ich nicht ganz einverstanden und zwar gerade in Betreff ihrer Herzgegend: „langsam, innig“. Wenn der Componist uns zu verstehen geben will, daß der Julinachtsänger sich an irgend ein inniges Glück erinnert, so brauchte doch dies nicht durch eine Melodie ausgedrückt zu werden, die wie eine Reminiscenz an innige und glückliche Melodien klingt, aber eben nur wie eine Reminiscenz. Dasselbe scheint mir von der Resignationsmelodie auf der vorletzten Seite zu gelten. Ja, ich möchte glauben, daß die ganze Composition nur nachempfunden, nicht eigentlich vorempfunden ist, was doch jedes Gute sein soll. Aber ein großes Illustrationstalent zeigt sich gerade auch in dieser mehr abgenöthigten als nothwendigen Production, wobei ich besonders an die erste Seite denke. Viel selbständiger, viel erlebter dünkt mich die Nachtfahrt, Einleitung und der sehr zarte Mittelsatz geradezu meisterhaft charakteristisch. Die auf Seite 4 eintretende Hauptmelodie ist mir zwar nicht ganz sympathisch, obwohl ich auch hier wie überhaupt bei der ganzen Composition eine zauberische Orchestralwirkung zu errathen glaube.
— — Nun Thema 2: Dr. Fuchs der Symptomatiker! ich hatte in diesem Sommer Zeit, über schriftstellerische Musiker nachzudenken und zwar gerade in Hinsicht auf ein von Musik handelndes Wochenblatt. Ein solches ist, wie wir alle wissen, fast ausschließlich auf lesende Musiker angelegt; deren Bedürfnisse bestimmen den Charakter des Blattes und diese sind, Gott sei Dank, bis jetzt fast noch gar nicht litterarisch, sondern, so weit sie ein Wochenblatt brauchen, nur geschäftlich. Der und der sucht eine Stellung, der will seine Musik aufgeführt haben — das ist glücklicher Weise noch der naive Sinn eines solchen Blattes. Zu welchem Tragelaphen aber wird dasselbe, wenn hinten nur das Geschäft und vorne Wolzogen, Stade und Sie, geehrtester Herr Doctor, zu Worte kommen; ich meinerseits wage es nicht, Ihre drei Namen unter den Begriff des Vergnügens des Gegensatzes halber zu fassen; Belehrung wäre auch nicht das rechte Wort; denn ich wüßte nicht, was Stade einem über 9te Symphonie oder Cornelius zu lehren hätte; und ob Wolzogen etwas zu lehren hat, wäre erst zu erkennen, wenn er erst einmal deutlich schreiben lernen wollte. Sie aber, werther Herr Doctor, denken ganz und gar nicht an den geschäftlichen Musiker vom hintern Theil des Blattes, an den glücklicher Weise so ungebildeten deutschen Musiker. Vielleicht denken Sie dabei an mich und da haben Sie wirklich einen, der sich gern von Ihnen belehren läßt und von wenigen Musikern so gern als von Ihnen. Leider liegt nur eben demselben das Wohl jenes Fritzscheschen Wochenblattes so am Herzen, daß er viel mehr als an seine „Belehrung“ und sein „Vergnügen“ daran denkt, wie wir die Existenz des Blattes schützen und mindestens bis zu den Bayreuther Festspielen verbürgen möchten, ich schwöre es Ihnen aber zu, daß ich keinen kenne, der Ihre Symptome gelesen hat; das liegt aber nicht an den Symptomen, sondern am Orte. An diesem Orte sind sie nicht nur unmöglich, sondern sie machen beinahe auch den Ort unmöglich. Dagegen könnte ich mir ein gewisses wohl ausgeführtes, breit angelegtes historisches Gemälde denken, in dem neben der Entwicklung ernst gemeinter philosophischer Lehrsätze über Musik auch die absurden Herren Lotze und Gervinus einen Platz oder wenigstens eine Armensünderbank hätten; ich kenne nur einen, der dies Gemälde malen könnte: aber was soll aus dem Maler werden, wenn Herr Georg Riemenschneider so viel Orchesterstücke componiert, und nun auch etwa Todtentanz und Donna Diana auf das Ciavier übertragen werden wollen!
Um aber auf das Wochenblatt zurückzukommen, so erinnere ich mich, keine Recensionen so gern gelesen und so an ihrem Platze gefunden zu haben als die Ihrigen, lieber Herr Doctor.
Das war nun freilich keine Antwort, sondern beinahe ein Straussisches Bekenntniß und vielleicht werden Sie dasselbe gar recht philisterhaft und mindestens sehr laienhaft finden. Wenn Sie es zeitgemäß finden sollten, mit einer brieflichen Betrachtung zu antworten, so seien Sie nur im Voraus überzeugt, in Basel allezeit das freundlichste Gehör und die wärmste Theilnahme für Ihr Wohl und Wehe zu finden.
Treulich Ihr ergebener
Friedrich Nietzsche.