1873, Briefe 287–338a
297. An Malwida von Meysenbug in Florenz
<Basel, gegen Ende Februar 1873>
Verehrtestes Fräulein, es ist mir seit der Abreise meines Freundes Gersdorff nicht gut gegangen, ich bin aus einem zwar sehr trivialen, aber um so lästigeren grippenartigen Zustande nicht herausgekommen und habe den Winter recht nachdrücklich an mir abgebüßt. So kam es, daß ein kleines Hochzeitsgeschenk, welches ich mir für Fräulein Olga ausgedacht hatte, erst in diesen Tagen fertig wurde und daß ich wieder einmal, Ihnen gegenüber, als ein sündig-säumiger Briefschreiber erscheine. Nehmen wir, um nicht allen Glauben an die Gerechtigkeit zu verlieren an, daß die langwierige Unannehmlichkeit von Husten Heiserkeiten usw. meine Strafe ist: womit ich zugleich die Hoffnung ausspreche, daß der heutige Brief auch eine Wendung meines Gesundheitsstandes mit sich bringen werde.
Vor allem aber, und ganz abgesehn von meinen ganz gleichgültigen Misèren, — wie geht es jetzt mit Ihrem Befinden, verehrtestes Fräulein? Ist der böse Stoß mit seinen Folgen überwunden und können Sie wieder ordentlich ins Freie gehen? Ich wünsche es von Herzen. Denn Sie brauchen jetzt vor allem eine recht tapfere Gesundheit, um die verschiedenen nächsten Ereignisse, Trennungen, Entscheidungen wenn nicht „frohmüthig“ wie man hier sagt, so doch muthig zu überstehen. Übrigens hat mir Frau Wagner einige Andeutungen gemacht, die sich gerade auf jene wichtigen Entscheidungen beziehen. Ich denke immer noch, irgendwann einmal sitzen wir alle in Bayreuth zusammen und begreifen gar nicht mehr, wie man es anderswo aushalten konnte.
Nun spreche ich Ihnen über das kleine Geschenk, welches durch Ihre Hand Fräulein Olga angeboten werden soll: es ist eine vierhändige Composition von mir, zum Ersatz jener bei dem Baseler Concil ausgefallenen Musikviertelstunde. Zu Grunde liegt ein Thema aus meinem fünfzehnten Jahre, das meine Schwester dieses Weihnachten unter alten Manuscripten von mir aufgefunden und das ich in den letzten Wochen etwas ausgeführt habe. Ich weiß das Datum der Vermählung nicht; sagen Sie deshalb, verehrtestes Fräulein, dem ausgezeichneten Paare das Herzlichste in meinem Namen und bitten Sie darum, daß meine schlechte Musik wenigstens als ein Symbol freundlich angenommen werden möge, als das Symbol einer guten „monodischen“ Ehe; und wir wissen ja Alle, daß die besten Dinge oft gerade durch geringe und niedrige Symbole charakterisirt werden. Übrigens könnte es meiner Musik nichts schaden, wenn sie etwas besser wäre. Das steht aber leider nicht in meinen Kräften. —
Ich begehre jetzt recht nach Sonnenschein und einiger Fröhlichkeit: besonders auch, um ein Manuscript zu Ende zu bringen, das von philosophischen Dingen handelt und an dem ich mit rechter Liebe gearbeitet habe. Alle die großen Philosophen, die während des tragischen Zeitalters der Griechen, das soll heißen während des sechsten und fünften Jahrhunderts gelebt haben, kommen darin vor: es ist höchst merkwürdig, daß die Griechen überhaupt in jenem Zeitraume philosophirt haben — und nun gar, wie!
Wünschen Sie mir etwas Heiteres und Erfreuliches, damit ich besonders während der Osterzeit, in der ich ein paar freie Tage habe, Lust und Muth zu dieser Arbeit und ihrer Vollendung finde. Ich komme mit dieser Schrift wieder in ein höchst praktisches Culturproblem, es wird mir mit unter angst und bange. —
Ich bin erstaunt und erfreut, verehrtestes Fräulein, daß meine Vorträge so sehr Ihre Theilnahme, ja Ihren Beifall gefunden haben; Sie müssen mir aber, auf mein ehrliches Gesicht, glauben, daß ich alles in ein paar Jahren besser machen kann und besser machen will. Einstweilen haben diese Vorträge für mich selbst eine exhortative Bedeutung: sie mahnen mich an eine Schuld, oder an eine Aufgabe, die gerade mir zugefallen ist, besonders nachdem nun gar der Meister sie feierlich öffentlich auf meine Schultern gelegt hat. Es ist aber keine Aufgabe für so junge Leute, wie ich bin, man muß mir gestatten wenn nicht zu wachsen doch älter oder alt zu werden. Jene Vorträge sind primitiv und dazu etwas improvisirt, glauben Sie mir es nur. Ich halte nicht viel davon, besonders auch der Einkleidung wegen. Fritzsch war bereit sie zu drucken, ich habe aber geschworen, kein Buch erscheinen zu lassen, bei dem ich nicht ein Gewissen, so rein wie ein Seraphim besitze. So stehts aber nicht mit diesen Vorträgen: sie dürften und könnten besser sein, es ist anders als bei meiner Musik, die gerade so ist, wie sie sein kann — das heißt in diesem Falle leider „schlecht genug.“
Über Ihre philologisch-pädagogische Frage habe ich oft nachgedacht, die Entscheidung dünkt mich allgemeinhin nicht wohl möglich. Es kommt so sehr darauf an, welche gerade die Muttersprache ist. Leider fehlt es mir sehr an Erfahrungen, aber ich sollte zB. meinen, es sei für ein deutsches Kind ein wahres Glück zuerst in einer regelrechten strengen Cultursprache, Französisch oder Latein, erzogen zu werden, damit sich ein kräftiges Stilgefühl entwickle, das nachher auch der später gelernten, etwas barbarischen Muttersprache zu Gute käme. Dagegen war es bei den Griechen und ist es bei den Franzosen freilich unnütz, eine zweite Sprache überhaupt zu lernen; solche Völker, die ein eignes Stilgefühl in so hohem Grade besitzen, dürfen sich bei ihrer eignen Sprache zufrieden geben. Alle anderen müssen lernen und lernen. (Ich spreche hier natürlich nicht von dem Werth, den das Erlernen einer fremden Sprache für Kenntniß fremder Litteraturen und Wissenschaften hat, sondern nur vom Sprachgefühl und Stilgefühl)
Warum schreibt denn Schopenhauer so vortrefflich? Weil er viele Jugendjahre hindurch fast nur französisch oder englisch oder spanisch gesprochen hat. Dann hat er, wie er selbst sagt, außerordentlich den Seneca, zu diesem Zwecke, studirt und nachgeahmt. Aber wie ein Deutscher, durch deutsche Lektüre, zu einem Stil kommen soll oder gar durch deutsche Unterhaltung und Geselligkeit, begreife ich nicht. Das Schwankende soll sich am Festen bilden: aber in Deutschland, im Lande der wüstesten Buch- und Zeitungsmacherei (im Jahre 1872 allein 12000 deutsche Bücher!) da sollte Jemand im Sprechen und Schreiben Stil lernen? Ich glaube es nicht, bin aber gerne bereit zu lernen. Denn wie gesagt, ich weiß nichts, habe nichts erfahren und bin kein Fachmann. —
Bleiben Sie mir, vereintestes Fräulein wohl geneigt und grüßen Sie Herrn Schuré von mir. Ihnen und Fräulein Olga alles Gute anwünschend verbleibe ich
Ihr
hochachtungsvoll ergebener
Friedrich Nietzsche.
NB. Ich danke Ihnen sehr für die Zusendung der Abhandlung des Herrn Villari, die ich ernsthaft lesen will — Gerne wünschte ich zu erfahren, ob Sie die Adresse meines trefflichen Freundes Gersdorff wissen und mir sagen können. Er schreibt so glücklich über Florenz und ist Ihnen so dankbar.
Was sagen Sie zu der mitfolgenden Preisaufgabe? Und den Preisrichtern? —