1873, Briefe 287–338a
309. An Richard Wagner in Bayreuth
Basel 20 Mai 1873
Geliebter Meister,
nun sind es wirklich zwei Menschenalter, daß die Deutschen Sie haben — und gewiß giebt es viele, die, wie ich sammt meinen Freunden, den nächsten Himmelfahrtstag als den Tag Ihrer Erdenfahrt feiern, zugleich sich sagend, welches das Loos eines jeden zur Erde fahrenden Genius sein wird, ein Loos, das wahrlich noch mehr an eine Höllenfahrt erinnert. Ein solcher Tag sollte aber nicht von Vielen, sondern von Allen gefeiert werden, und das ist wirklich immer das Schmerzlichste, daß die Menschen sich so unglaublich langsam zur Dankbarkeit anschicken, und daß erst nach zwei Generationen eine blasse Ahnung dieser höchsten Dankbarkeits-Verpflichtung gefühlt wird. Was wären wir denn, wenn wir Sie nicht haben dürften, und was wäre ich zum Beispiel anderes (wie ich jeden Augenblick empfinde) als ein todtgebornes Wesen! Mich schaudert immer bei dem Gedanken, ich könnte vielleicht abseits von Ihnen liegen geblieben sein: und dann lohnte sich wahrlich nicht zu leben, und ich wüßte gar nicht, was ich mit der nächsten Stunde beginnen sollte. Jetzt lernte ich doch Eins: daß irgendwann die Deutschen anfangen müssen, für Sie ein „Publikum“ zu bilden: und ich wünsche sammt meinen Freunden zu diesem Publikum gerechnet zu werden. Freilich gehören wir mehr zur dritten als zur zweiten Generation und kommen somit spät genug. Das wieder gut zu machen, müssen wir’s recht Ernst nehmen mit unsrer Aufgabe, Publikum zu sein: damit wir von der dumpfen Ahnung zur Klarheit kommen, zu begreifen, weshalb Ihr Genius gerade zu den Deutschen gekommen ist.
Hier in Basel werden wir dies feiern, denn hier haben Sie wirklich eine kleine Schule. Da giebt es meinen Freund Gersdorff (seit vorgestern hier) Overbeck Romundt, dann des letzteren Freund Rée, der auch diesen Sommer hier bleibt, dann ein paar Studenten, die gläubig auf mich hören, wenn ich von Ihnen erzähle. Daß Overbeck jetzt mit der Fritzschischen Signatur auftritt, ist himmlisch, und ich danke Ihnen von Herzen, dies möglich gemacht zu haben. Ich wollte Ihnen aber eigentlich mit der Zusendung meines Anti-Strauss danken, der seit Wochen in der ersten Niederschrift fertig ist. Aber jetzt, in der ersten Noth des neuen Semesters, geht es mit der Umarbeitung langsam, zumal ich sehr an plötzlicher und schmerzhafter Augenschwäche leide und besorgt genug bin. Ich hatte gehofft, Ihnen zum Geburtstag mein Manuscript schicken zu können, aber es gieng nicht, und ich bitte Sie, mir noch ein Weilchen Zeit zu geben. Inzwischen sende ich Ihnen und der verehrtesten Frau Gemahlin meine herzlichsten Grüße; und wenn das ganze Haus Sie feiert und die guten Kinder gratuliren, so denken Sie, daß wir hier in der Ferne neunte Symphonie und Kaisermarsch spielen und mit feiern und mit gratulieren.
Ihr treulich ergebener
Gratulant
Friedrich Nietzsche