1873, Briefe 287–338a
316. An Carl von Gersdorff in Siena
Basel Samstag. <27. September 1873>
Nun, mein geliebter Freund! Heute giebt es endlich bei mir Ferien, das neunte akademisch-pädagogische Semester ist abgethan! Schnell also mag ein Gruss von mir hin zu Dir eilen, um Dir noch einmal zu sagen, was Du weisst — dass dieses neunte Semester Dein Werk ist. Was wäre da alles zu sagen, wenn es unter uns darauf ankäme, durch Worte zu danken! Genug, ich habe viel verloren, als ich mit dem zu Ende eilenden Semester auch Dich verlor, und hier und da beschleicht mich das Gefühl der Einsamkeit, das ich aber kräftig unterdrücke, um mir recht klar zu machen, was mir an den übrig gebliebenen Freunden eigentlich übrig geblieben ist. Nur dass auch diese, wenn ich mit ihnen zusammen bin, über Deinen Verlust klagen: so dass uns, um das allgemeine Beraubtsein zu ertragen, die Klage endlich immer in Dein Loblied umschlägt. Dann preisen wir uns, Dich als Freund zu haben und erleichtern es uns, dass wir Dich recht entbehren.
Das zwölftel Last, das jeder von uns mehr zu tragen hat, ist viel zu gering taxirt: und — da es auch einiges Erfreuliche inzwischen gab — so fehlte uns bei der Freude ein ganzer voller Mensch, nämlich Du.
Von R<ichard> W<agner> traf ein herrlich-heiterer Brief ein, in Betreff der Strussiade schrieb er „ich habe wieder darin gelesen und schwöre Ihnen zu Gott zu, dass ich Sie für den Einzigen halte, der weiss, was ich will!“
Daran wollen wir uns doch genügen lassen, nicht wahr, lieber Freund?
Übrigens ist der Zeitungs-Spuk gross und fast unerträglich gewesen! Alle Baseler Zeitungen haben Artikel, zum Theil verschiedenartige, gebracht, darunter auch einen begeisterten: in summa 5 Artikel. Dann Karl Hillebrand in der Augsburgerin — höchst merkwürdig, doch so dass für mich fundamentale Differenzen übrig geblieben sind, und ich im Ganzen Frau W. zustimme, wenn sie sagt „K. H. kennt die Franzosen besser als irgend ein Franzose, aber er kennt die Deutschen nicht mehr.“
Die Gesundheit ist wandelbar gewesen, doch hoffe ich alles von der nächsten, ruhig-produktiven Ferienzeit. Denn nur wenn ich etwas hervorbringe, bin ich wirklich gesund und fühle mich wohl. Alles Übrige ist schlechte Zwischenaktsmusik.
Fuchs hat die angemeldeten Compositionen geschickt — sie sind recht schön. Baumgartner brachte zwei herrlich gebundene (Juchten — Gold) Exemplare meiner Schriften, in die ich mich einschreiben musste. Leutsch hat hier seinen Besuch angemeldet — er soll einige Wahrheiten zu hören bekommen. Ritschl schweigt. Fritzsch schweigt — doch schreibe ich vielleicht noch heute.
Ein Brief von Frl. von Meysenbug traf kurz nach Deiner Abreise ein, ich lege ihn bei.
Heute ist alles blauer Himmel, und ich vermuthe dass Du sehr glücklich sein wirst.
Lebe wohl, mein lieber getreuer
Freund, mehr darf ich nicht
schreiben.
Dein
Friedrich Nietzsche.
Herzliche Grüsse und Wünsche von Overbeck Romundt, meiner Schwester und Vischers.