1873, Briefe 287–338a
290. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Basel, 27. Januar 1873>Montag.
Meine liebe Mutter und Schwester
ich schwieg so lange als ich schweigen mußte, denn ich war nicht wohl und lag, in Folge einer Erkältung, zu Bette. Nun geht es so matt hin, in’s Freie darf ich heute noch nicht, denn es ist stürmisch-regnerisch, obschon lauwarm. Ich weiß gar nicht mehr, was ich essen soll, denn zu nichts habe ich Appetit. Und der Husten ist noch immer heftig, doch gelöster. Immermann erscheint täglich, als getreuer Freund und Arzt. Eben nehme ich mir vor einen ganzen Ballen von Briefen zu beantworten: als da sind: Einladungen (zu Vischer-Sarasin, Turneysen-Merian, J. J. Merian, dann zu einem großen Balle bei La Roche Burkhardts, die Du kennst, liebe Lisbeth; Ringwald’s, beiläufig, ist Dalbe). Dann Erkundigungen nach meinem Befinden: Frl. Kestner. Dann lange Freundesbriefe: Deussen (aus üppigen Verhältnissen heraus, ist zufrieden, doch brieflich der Narr wie früher), Frl. von Meysenbug, rührender Neujahrsbrief, Rohde, dann Dr Fuchs (Brief von 20 ganz großen Seiten „die Naumburger Stunden gestalten sich in der Erinnerung wie ein liebliches Mährchen“) Dann offizieller Briefverkehr: Prof. Riedel in Leipzig, Preisfragen-Einzelheiten. Es schwindelt mir! Dann Prof. Giliéron, der hier Doktor werden will und mir ein Manuscript von 160 lateinisch geschrieben Bogenseiten eingeschickt hat!
Ich hatte den Besuch des ausgezeichneten Gersdorff, zu aller meiner hiesigen Freunde Frohgenuß, von Freitag bis Montag. Viel Gutes besprochen. Er mußte dann über den Splügen reisen und wird wohl in Florenz eingetroffen sein.
Am Abende seiner telegraphisch angekündigten Ankunft (Donnerstag) konnte ich ihn nicht empfangen, denn ich war im blauen Hause, das in allem Glanze des Patriziers strahlte.
Nun Ihr habt einen schönen Verlobungsjubel angestimmt. Wer sind denn eigentlich die zunächst Betroffenen? (Ich meine Ent-Erb-Onkelten?)
Meine Stube bekommt jetzt von Allen, die sie sehn, das Prädikat, daß sie sehr traulich und behaglich aussehe.
Nun verzeiht, wenn ich heute schon schließe. Ich bin so matt.
Eurer herzlich gedenkend
der alte F N.
Anbei das Pindersche Hemd.