1873, Briefe 287–338a
307. An Erwin Rohde in Kiel
Basel 5 Mai.
Theuerster Freund,
bist Du wieder in der Semesterthätigkeit darin? Wir fangen so nachgerade in diesen Tagen an. Was Glänzendes wird es wieder nicht, doch auch nicht so lumpig und so durchaus verächtlich, wie im vorigen Winter. Gersdorff schrieb heute Morgen aus Sicilien. Overbeck ist mit seiner Schrift (wir nennen sie „Zukunftstheologie“) fertig, auch der Verleger ist gefunden — und wer? Fritzschius! Natürlich in so schönem Gewände, wie die Geburt der Trag. auftretend, wird sie nicht verfehlen alle theologischen Parteien zur Entrüstung zu bringen. Gersdorff hat Recht, wenn er schreibt, Basel sei vulcanisch geworden. Auch ich habe wieder etwas Lava gespieen: eine Schrift gegen David Strauss ist ziemlich fertig, wenigstens in der ersten Skizze — aber ich bitte Dich um Grabes-Nacht-Stillschweigen, denn es wird eine große Mystifikation in Scene gesetzt. Ich kam von Bayreuth in einer solchen anhaltenden Melancholie zurück, daß ich mich endlich nirgends anderswohin retten konnte als in die heilige Wuth.
Für die Zusendung Deiner Schrift über Aelius Promotus (bis dahin mir schändlich unbekannter Herr!) danke ich Dir bestens, habe sie mit schuldigstem Respekte gelesen und bekenne nicht ohne Desperation, durchaus verächtlicher Lump zu sein gegen Dich philologum. Dafür kannst Du aber auch keinen Hymnus auf die Freundschaft machen, noch den Papst durch die Monodie herauslocken (herauslitzen vulg.)
Weißt Du, daß unser überaus festlicher Abschiedstrunk in Lichtenfels mich berauscht gemacht hatte? Nämlich es trat das Phänomen ein, daß ich wähnte, ich würde in einem großen Rade mit herumgedreht: dabei wurde mir schwindlicht, ich schlief ein wachte in Bamberg auf, trank Kaffee: und war Mensch wie zuvor. Verlebte dann den Nachmittag in Nürnberg, sowie den zweiten Ostertag und befand mich körperlich ebenso wohl als höchst, höchst schwermüthig! Dabei waren alle Leute geputzt und liefen im Freien herum, und die Sonne so herbstlich mild. Nachts sauste ich nach Lindau ab, fuhr, im Kampf von Nacht- und Tagesgestirn, früh um 5 Uhr über den Bodensee, kam noch zeitig am Rheinfall bei Schaffhausen an, machte dort Mittag. Neue Schwermuth, dann Heimreise; an Lauffenburg vorbeikommend sah ich, daß die Stadt mächtig brannte.
Hier ist, für den ganzen Sommer, ein Freund Romundt’s eingetroffen, ein sehr nachdenkender und begabter Mensch, Schopenhauerianer, Namens Rée. — Ritschl hat Wilamowitzium angezapft und schickte mir die betreffenden Seiten des Rhein. Mus.’s zu. Geht mich gar nichts an.
Übrigens haben wir uns, wie mir vorkommt, gar nicht recht gesprochen, doch haben wir zusammen viel gelernt und erfahren — und diese Gemeinsamkeit ist doch wichtiger.
Den Barbier habe ich nicht bezahlt; was mich arg kränkt. Der Hausknecht, der von mir fürstlich belohnte, war, wie mir eingefallen ist, wahrscheinlich derselbe, den ich damals beinahe die Treppe hinuntergeworfen habe. Alle Schuld rächt sich auf Erden. In Scharfhausen habe ich ein vortreffliches Tintenfaß gekauft, mit einem Gutta percha Einsatz: die Tinte zeigt gar keine Oberfläche, und die Feder des Schreibenden drückt erst jenen Einsatz etwas nieder: so wird die Tinte nicht staubig und die Feder nicht übermäßig voll: und darum schreibe ich heute so schön, daß Du nichts lesen kannst, nicht wahr?
Nun, so wollen wir denn unser Dasein weiterschleppen und den Vers meines Freundschaftshymnus singen, welcher anfängt „Freunde, Freunde! haltet fest zusammen!“ Weiter habe ich das Gedicht doch noch nicht: doch der Hymnus selbst ist fertig — und dies ist das metrische Schema:

„Freunde Freunde haltet fest zusammen“
Preisausschreiben an alle meine Freunde, darauf einen Vers zu dichten oder zwei!
Ich dachte, es würden während des Briefschreibens einige Herrn Studenten kommen, um zu meinem Collegio sich anzumelden. Denn es war meine Stunde; aber es ist keiner gekommen. Wehe! Wehe!
Adieu, mein lieber guter Freund! Und denke meiner freundlich.
Dein Fr. N.