1876, Briefe 496–584
567. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sorrent, erste Novemberhälfte 1876>
Meine liebe gute Mutter, wie unerwartet kam diese schmerzliche Nachricht! Ich war ganz davon betroffen und habe es nun zweimal in Einer Woche erlebt, dass ich mehr an die Gesundheit und Ausdauer ganz alter Personen geglaubt hatte als an die eigene Gesundheit — und mich dabei irrte. Mir fiel ein dass in einem der letzten Tage in Basel der alte Gerlach mich besuchte, so sehr als der Gesunde Rüstige, dass ich mich meiner ewigen Kränklichkeit schämte; und ebenso dachte ich: ja wenn du selber die Rippe gebrochen hättest und nicht deine gute alte Grossmutter — mit mir wäre es gewiss vorbei, mit ihr aber gewiss nicht. Nun ist es anders gekommen und Du meine liebe Mutter hast es in der Nähe mit erlebt und hast helfen und zusprechen können; um so mehr wirst Du Dich jetzt verlassen und beraubt fühlen. Da ist es mir ein wahrer Trost, unsere Lisbeth diesen Winter bei Dir zu wissen; so dass aus meinem Kranksein sich doch wenigstens dieser Vortheil für Dich ergeben hat; während Du sonst nur Sorge und Entbehrung davon hast. Nun wird sie mit Dir trauern und Dich erheitern; und ich will versuchen, Dir aus der Ferne her die Freude zu machen, dass meine Gesundheit vorwärts schreitet. Mehr kann ich jetzt nicht, selbst nicht einmal längere Briefe schreiben, das weisst Du ja.
Mit der letzten Woche bin ich sehr viel mehr zufrieden als mit irgend einer früheren. Dr. Rée hat Genaueres über mein Befinden an Lisbeth geschrieben, ich bat ihn darum. Ich werde ausgezeichnet besorgt, Trina ist als Krankenwärterin wie sonst sehr tüchtig. Ein heisses Fussbad mit Senf und Asche hat mir bis jetzt den wesentlichsten Dienst bei einem heftigen Anfall gethan; sodann die Spaziergänge in der Gebirgs- und Meerluft. Die Bäder habe ich aufgeben müssen. Mir graut jetzt etwas vor den Gesundheitsverhältnissen in Basel, welche jedenfalls ungünstig für mich sind. Namentlich habe ich meine Augen viel zu sehr anstrengen müssen. Trotzdem beschäftige ich <mich> mit dem Gedanken an das Gerlachsche Haus; mir fällt es immer wieder ein.
So viel für heute. In der herzlichsten Theilnahme, mit Dir trauernd und Dich und die liebe Elisabeth auf das Innigste grüssend Dein Sohn.