1876, Briefe 496–584
518. An Malwida von Meysenbug in Rom
Charfreitag 14 April 1876. Basel.
Hochverehrtes Fräulein
es gab vor 14 Tagen ungefähr einen Sonntag den ich allein am Genfersee und ganz und gar in Ihrer Nähe verbrachte, von früh bis zu dem mondglänzenden Abend: ich las mit wiederhergestellten Sinnen Ihr Buch zu Ende und sagte mir immer wieder, dass ich nie einen weihevolleren Sonntag erlebt habe; die Stimmung der Reinheit und Liebe verliess mich nicht und die Natur war an diesem Tage nichts als das Spiegelbild dieser Stimmung. Sie gingen vor mir her als ein höheres Selbst, als ein viel höheres —, aber doch noch mehr ermuthigend als beschämend: so schwebten Sie in meiner Vorstellung und ich maass mein Leben an Ihrem Vorbilde und fragte mich nach dem Vielen, was mir fehlt. Ich danke Ihnen für sehr viel mehr als für ein Buch. Ich war krank und zweifelte an meinen Kräften und Zielen; nach Weihnachten glaubte ich von allem lassen zu müssen und fürchtete nichts mehr als die Langwierigkeit des Lebens, das mit Aufgebung der höheren Ziele nur wie eine ungeheure Last drückt. Ich bin jetzt gesünder und freier, und die zu erfüllenden Aufgaben stehen wieder vor meinen Blicken, ohne mich zu quälen. Wie oft habe ich Sie in meine Nähe gewünscht, um Sie etwas zu fragen, worauf nur eine höhere Moralität und Wesenheit als ich bin Antwort geben kann! Aus Ihrem Buche entnehme ich mir jetzt Antworten auf sehr bestimmte mich betreffende Fragen; ich glaube mit meinem Verhalten nicht eher zufrieden sein zu dürfen als bis ich Ihre Zustimmung habe. Ihr Buch ist für mich aber ein strengerer Richter als Sie es vielleicht persönlich sein würden. Was muss ein Mann thun, um bei dem Bilde Ihres Lebens sich nicht der Unmännlichkeit zeihen zu müssen? — das frage ich mich oft. Er muss das alles thun, was Sie thaten und durchaus nichts mehr! Aber er wird es höchst wahrscheinlich nicht vermögen, es fehlt ihm der sicher leitende Instinkt der allzeit hülfbereiten Liebe. Eins der höchsten Motive, welches ich durch Sie erst geahnt habe, ist das der Mutterliebe ohne das physische Band von Mutter und Kind, es ist eine der herrlichsten Offenbarungen der caritas. Schenken Sie mir etwas von dieser Liebe, meine hochverehrte Freundin und sehen Sie in mir einen, der als Sohn einer solchen Mutter bedarf, ach so sehr bedarf!
Wir wollen uns viel in Bayreuth sagen: denn jetzt darf ich wieder darauf hoffen, dorthin gehen zu können: während ich ein paar Monate auch den Gedanken daran aufgeben musste. Wenn ich jetzt nur, als der Gesündere, Ihnen etwas erweisen könnte! Und warum lebe ich nicht in Ihrer Nähe!
Leben Sie wohl, ich bin und
bleibe der Ihrige in
Wahrheit
Friedrich Nietzsche.
Ich bin sehr dankbar für den Brief Mazzini’s —