1876, Briefe 496–584
554. An Reinhart von Seydlitz in Berlin
Basel 24 Sept. 1876.
Lieber und werther Herr, nach einem solchen Briefe, einem so ergreifenden Zeugnisse Ihrer Seele und Ihres Geistes kann ich nichts sagen: als allein dies — bleiben wir uns nahe, sehen wir zu dass wir uns nicht wieder verlieren, nachdem wir uns gefunden haben! Ich sehe die schöne Gewissheit vor mir, einen wahren Freund mehr zu gewinnen. Und wenn Sie wüssten, was dies für mich bedeutet! Bin ich doch immer auf Menschenraub aus, wie nur irgend ein Corsar; aber nicht um diese Menschen in der Sclaverei, sondern um mich mit ihnen in die Freiheit zu verkaufen.
Nun wünschte ich, dass wir eine Zeit einmal zusammen leben möchten: denn meine Augen (welche man noch dazu mit einer Atropinkur behandelt) verbieten mir eine briefliche Verständigung, selbst wenn eine solche möglich wäre; woran ich aber zweifle.
Sie gehen am 1 October nach Davos, und ich, am gleichen Tage, nach Italien, um in Sorrent meine Gesundheit wieder zu finden, im Zusammenleben mit meiner verehrten Freundin Fräulein von Meysenbug (kennen Sie deren „Memoiren einer Idealistin“? Stuttgart 1875) ebenfalls begleiten mich ein Freund und ein Schüler dahin — wir alle haben ein Haus zusammen und alle höheren Interessen überdies gemeinsam: es wird eine Art Kloster für freiere Geister. Von dem erwähnten Freunde will ich nicht verschweigen, dass er der Verfasser eines anonymen sehr merkwürdigen Buches ist „psychologische Beobachtungen“ (Berlin Carl Duncker 1875)
Warum erzähle ich dies Ihnen? O Sie errathen meine stille Hoffnung: — wir bleiben ungefähr ein Jahr in Sorrent. Dann kehre ich nach Basel zurück, es sei denn dass ich irgendwo mein Kloster, ich meine „die Schule der Erzieher“ (wo diese sich selbst erziehen) in höherem Style aufbaue.
Von ganzem Herzen Ihnen
ergeben Friedr. Nietzsche