1876, Briefe 496–584
527. An Richard Wagner in Bayreuth
Basel, 21. Mai 1876.
An einem solchen Tage, wie Ihr Geburtstag ist, höchst verehrter Mann, hat eigentlich nur die allerpersönlichste Äußerung ein Recht; denn jeder hat etwas durch Sie erlebt, das ihn ganz allein, in seinem tiefsten Innern, angeht. Solche Erlebnisse kann man nicht addiren, und der Glückwunsch im Namen vieler würde heute weniger sein als das bescheidenste Wort des Einzelnen.
Es sind ziemlich genau sieben Jahre her, daß ich Ihnen in Tribschen meinen ersten Besuch machte, und ich weiß Ihnen zu Ihrem Geburtstage nicht mehr zu sagen, als daß ich auch, seit jener Zeit, im Mai jedes Jahres meinen geistigen Geburtstag feiere. Denn seitdem leben Sie in mir und wirken unaufhörlich als ein ganz neuer Tropfen Bluthes, den ich früher gewiß nicht in mir hatte. Dieses Element, das aus Ihnen seinen Ursprung hat, treibt, beschämt, ermuthigt, stachelt mich und hat mir keine Ruhe mehr gelassen, sodaß ich beinahe Lust haben könnte, Ihnen wegen dieser ewigen Beunruhigung zu zürnen, wenn ich nicht ganz bestimmt fühlte, daß diese Unruhe mich gerade zum Freier- und Besserwerden unaufhörlich antreibt. So muß ich dem, welcher Sie erregte, mit dem allertiefsten Gefühle des Dankes dankbar sein; und meine schönsten Hoffnungen, die ich auf die Ereignisse dieses Sommers setze, sind die, daß viele in einer ähnlichen Weise durch Sie und Ihr Werk in jene Unruhe versetzt werden und dadurch an der Größe Ihres Wesens und Lebensganges einen Antheil bekommen.
Daß dies geschehen möge, das ist heute mein einziger Glückwunsch für Sie (wo gebe es sonst das Glück, das man Ihnen wünschen könnte?) nehmen Sie ihn freundlich an aus dem Munde
Ihres wahrhaft getreuen
Friedrich Nietzsche.