1876, Briefe 496–584
498. An Carl von Gersdorff in Hohenheim
<Basel, 18. Januar 1876>
Mein geliebter Freund, habe Dank für Deine guten Nachrichten, ich erwartete sie mit Sehnsucht, jetzt kann ich doch mit Dir hoffen und weiss, dass einem von uns etwas Gutes zu Theil werden soll — so wie es dieser Eine auch verdient und nöthig hat. Es scheint mir, dass alles so gut eingeleitet ist, dass wir mit Fassung nun zu Ende warten dürfen. Das Ende kommt doch wohl Ostern?
Es macht mir Mühe zu schreiben, ich will drum kurz sein. Liebster Freund, ich habe das schlimmste schmerzhafteste und unheimlichste Weihnachten hinter mir, das ich erlebt habe! Am ersten Weihnachtstage gab es, nach manchen immer häufiger kommenden Ankündigungen, einen förmlichen Zusammenbruch, ich durfte nicht mehr zweifeln, dass ich an einem ernsthaften Gehirnleiden mich zu quälen habe, und dass Magen und Augen nur durch diese Centralwirkung so zu leiden hatten. Mein Vater starb 36 Jahr an Gehirnentzündung, es ist möglich, dass es bei mir noch schneller geht. Nun werden mehrstündige Eiskappen, Ubergiessungen auf den Kopf früh morgens, auf Immermanns Rath, angewendet, und es geht, nach einer Woche von gänzlicher Erschlaffung und schmerzhafter Zerquältheit, wieder etwas besser. Doch ist es nicht einmal Reconvaleszenz, der unheimliche Zustand ist nicht gehoben, alle Augenblicke werde ich an ihn erinnert. Man hat mir bis Ostern das Pädagogium abgenommen, an der Universität unterrichte ich wieder. Ich bin geduldig, aber voller Zweifel, was werden soll. Ich lebe fast ganz von Milch, die mir gut thut, auch schlafe ich ordentlich, Milch und Schlaf sind die besten Dinge, die ich jetzt habe. Wenn nur wenigstens die fürchterlichen tagelangen Anfälle ausbleiben wollen! Ohne sie kann man sich doch wenigstens aus einem Tag in den andern schleppen.
Meine Schwester liest mir viel vor, weil mir Lesen und Schreiben schwer fällt. Walter Scott hätte ich neben Milch und Schlaf nennen sollen. Etwa den 19 März will ich wo möglich an den Genfersee gehen, bis dahin ist der Winter noch zu rauh, und Spazierengehen in der Kälte ist mir eher schädlich als nützlich. Meine Mutter wird in Kürze hier eintreffen.
Bitte behalte den Inhalt des Briefes für Dich, wir wollen die Bayreuther nicht beunruhigen! Ach Bayreuth! Entweder ich darf nicht hin oder ich kann nicht hin — so schwebt es mir jetzt vor der Seele. Aber es soll noch eine dritte Möglichkeit geben, und wenn ich denke, was ich alles schon durchgemacht habe, so muss ich wohl glauben, auch noch über diesen Winter hinwegzukommen.
Lebe Du wenigstens wohl, ich muss mein Glück immer mehr im Glück meiner Freunde suchen. Alle meinen eignen Pläne sind ja wie Rauch; ich sehe sie noch vor mir und möchte sie fassen. Denn es ist traurig, ohne sie zu leben, ja kaum möglich. — Kannst Du Ostern etwas mit mir zusammen gehn, also etwa an den Genfersee? Eine ganz vorläufige Anfrage.
Schreibe doch an Frl. v Meysenbug, sie frägt theilnehmend nach Dir.
In alter Treue
der Deinige
F N.
Bald sollst Du Besseres aus Basel hören, ich verspreche Dir’s