1876, Briefe 496–584
515. An Franz Overbeck in Basel
<Veytaux, 5. April 1876> Printannière, bei Chillon Mittwoch.
Ich mache mir Vorwürfe, Dir nicht geschrieben zu haben, lieber guter Freund, der Du mich zur Strafe mit einem zweiten Briefe beschenkt hast! Ich sehe es, in was für einer verzeihlichen Stimmung Du bist und wie Du genug von Glücke hast, um noch davon abgeben zu können. Hier sitze ich nun, ich einsamer Mann immer noch: sitzen freilich ganz uneigentlich zu verstehen, denn ich steige auf und nieder von früh bis Abend und bringe es zu Stunden wahren Glücksgefühls, mitten unter vielem Unbehagen — Du weisst es ja, wie meine körperlichen Leiden häufig genug den „moralischen“ zum verwechseln ähnlich sehen; und jenes Glücksgefühl ist daher auch immer etwas mehr als Abwesenheit von Kopfschmerz. Mir ist es, als ob ich in sehr vielen Dingen in die Klemme getrieben worden sei — Gesundheit heisst für mich, daraus zu kommen. Dieses Glück anticipire ich mitunter beim Herumschweifen auf den Bergen, ich weiss nichts Besseres („Traurig genug!“ wirst Du sagen und mit Recht!)
Morgen gehe ich nach Genf. Ich fürchte mich vor einer neuen Stadt wie vor einem wilden Thiere; ein Besuch in Lausanne hatte einen ganz Bergamasken Character, mir war übel und wehe und ich war wie erlöst als ich wieder den Mond über Schloss Chillon erblickte und die Schneeberge Savoyens in mildkalter klarer Nacht leuchteten. Ich habe an Herrn von Senger geschrieben; misslingt mir’s beim ersten Anlaufe, so komme ich spornstreichs nach Basel.
Mehr erlauben mir die Augen nicht zu schreiben. Dass die alma mater in die Kaserne marschiren soll, unter Deinem Vortritt, entzückt mich. Lebe wohl
In Treue der Deinige
Die freundlichsten Grüsse an Frau Baumann!