1882, Briefe 185–366
366. An Franz Overbeck in Basel
<Rapallo, 31. Dezember 1882>
Lieber Freund
Dank von ganzem Herzen für Deine zwei Briefe. Und heute wirst Du Dich nicht wundern zu hören, daß ich inzwischen auch noch nicht weise geworden bin. Die ungeheure Spannung, mit der ich die letzten 10 Jahre Schmerz und Entsagung überwunden habe, rächt sich in solchen Zuständen; ich bin zu sehr Maschine dadurch geworden, und die Gefahr ist nicht gering, bei so heftigen Bewegungen, daß die Feder springt.
Ich war drei Mal in Genua, aber fand kein Zimmer, wie ich es diesmal brauche, nämlich mit Ofen. Es ist kalt, ich habe in Leipzig schon mich an Feuer gewöhnt — und zuletzt: ich habe nicht viel Wärme zuzusetzen. In Genua giebt es keine Öfen. Der kälteste Monat ist gerade vor der Thür.
Zuletzt hilft es nichts, ich muß hier bleiben. Für meinen Kopf bietet die Nähe des Meeres eine Erleichterung — das ist nicht zu unterschätzen, da ich, wie begreiflich, jetzt wieder sehr viel auch physisch zu leiden habe.
Ich bin nun einmal nicht Geist und nicht Körper, sondern etwas drittes. Ich leide immer am Ganzen und im Ganzen. —
Nun, was soll werden? Meine Selbst-Überwindung ist im Grunde meine stärkste Kraft: ich dachte neulich einmal über mein Leben nach und fand, daß ich gar nichts weiter bisher gethan habe. Selbst meine „Leistungen“ (und namentlich die seit 1876) gehören unter den Gesichtspunkt der Askese. Askese sieht natürlich bei diesem Menschen etwas anders aus als bei dem andern. (Auch der Sanctus Januarius ist das Buch eines Asketen — meine liebe Frau Professor Overbeck!)
Mit herzlichem Gruße
Dein F.N.
Und Heil dem neuen Jahre — um nichts über das alte zu sagen!
Sylvester 1882 (mich schaudert bei dieser Jahreszahl.)