1882, Briefe 185–366
348. An Lou von Salomé in Berlin (Entwurf)
<Rapallo, vor Mitte Dezember 1882>
Ich glaube, es kann Niemand besser von Ihnen denken, aber auch Niemand schlimmer.
Es steht ganz so wie mit Freund R<ée> — ich kann weder mit Ihnen noch mit ihm ein Wort von dem sprechen, was mir am meisten am Herzen liegt. Diese erzwungene Lautlosigkeit ist mir mitunter fast zum Ersticken — namentlich weil ich Sie Beide lieb habe.
Damals war ich geneigt, Sie für eine Vision, und die Erscheinung meines Ideals auf Erden zu halten. Bemerkten Sie schon? ich sehe sehr schlecht.
Ja, ich war Ihnen böse! Aber warum von dieser Einzelheit reden? Ich bin Ihnen alle 5 Tage und öfter noch böse gewesen — und glauben Sie mir, ich habe meine sehr guten Gründe dazu gehabt. Ich werde mehr als durch Handlungen durch Eigenschaften beleidigt. Aber ich überwinde mich. Und wie sollte ich jetzt mit M<enschen> leben können, wenn ich meinen Abscheu vor vielem Menschlichen nicht zu überwinden wüßte. Ich habe die Welt und Lou nicht geschaffen. — Hätte ich L<ou> geschaffen, so würde ich Ihnen gewiß eine bessere Gesundheit gegeben haben, aber vor Allem einiges Andre, an dem viel mehr liegt als an Gesundheit — und vielleicht auch ein Bischen mehr Liebe zu mir (obwohl daran gerade am wenigsten liegt.)
(Ich habe mich im Ganzen Großen noch nie über einen M<enschen> getäuscht.)
Ich traute Ihnen höhere Gefühle als andern M<enschen> zu: das war, das allein, was mich so schnell an Sie band. Nach Allem, was mir von Ihnen erzählt worden war, war dies Zutrauen erlaubt. Ich würde Ihnen wehethun und nichts nützen, wenn ich Ihnen sagte, was ich meine heilige Selbstsucht nenne. — Seltsam! Ich glaubte im Grunde immer noch daran, daß Sie dieser höheren und allerseltensten Gefühle fähig sind: irgend ein Grund-Unglück in Ihrer Erziehung und Entwicklung hat Ihnen den guten Willen dafür nur zeitweilig gelähmt. — Denken Sie: jener Katzen-Egoismus der nicht mehr lieben kann, jenes Lebensgefühl im Nichts zu dem Sie sich bekennen sind genau das mir ganz Widerwärtige am Menschen: schlimmer als irgend etwas Böses. (Dinge, die man hat, um sie zu überwinden — um sich zu überwinden.): eingerechnet die Erkenntniß als plaisir neben andern plaisirs. Und wenn ich Sie irgendwie verstehe: dies Alles sind an Ihnen willkürliche und angezwungene Tendenzen — so weit es nicht Symptome Ihrer Krankheit sind (:worüber ich eine Menge schmerzlicher Hintergedanken habe.)
Damals in Orta hatte ich bei mir in Aussicht genommen, Sie Schritt für Schritt bis zur letzten Consequenz meiner Philosophie zu führen — Sie als den ersten Menschen, den ich dazu für tauglich hielt. Ach, Sie ahnen nicht, welcher Entschluß, welche Überwindung das für mich war! Ich habe als Lehrer immer viel für meine Schüler gethan: der Gedanke an Belohnung in irgend einem Sinn hat mich dabei immer beleidigt. Aber das, was ich hier thun wollte, jetzt, bei dem immer schlechteren Zustande meiner Körperkräfte, war über Alles Frühere hinaus. Ein langwieriger Bau und Aufbau! Ich habe nie daran gedacht, Sie erst um Ihren Willen zu fragen: Sie sollten kaum merken, wie Sie in diese Arbeit hineinkämen. Ich vertraute jenen höheren Impulsen, an welche ich bei Ihnen glaubte.
— ich dachte Sie mir als meinen Erben —
Was Freund R<ée> betrifft: so gieng es mir, wie es mir jedesmal (auch nach Genua) gegangen ist: ich kann dieses langsame Zugrundegehen einer außerordentlichen Natur nicht ansehen, ohne ingrimmig zu werden. Dieser Mangel an Ziel! und daher diese geringe Lust an den Mitteln, an der Arbeit, dieser Mangel an Fleiß, selbst an wissenschaftl. Gewissenhaftigkeit. Dieses fortwährende Vergeuden! Und wäre es wenigstens ein Vergeuden aus der Lust des Verschwendens! Aber es hat so ganz die Miene des schlechten Gewissens. — Ich sehe überall die Fehler der Erziehung. Ein Mann soll zum Soldaten erzogen werden, in irgend einem Sinne. Und das Weib zum Weib des Soldaten, in irgend einem Sinne
Spiritus und Portemonnaie.