1882, Briefe 185–366
351. An Lou von Salomé in Berlin (Entwurf)
<Rapallo, vor Mitte Dezember 1882>
Ob ich Viel gelitten habe, das ist mir Alles nichts gegen die Frage: ob Sie sich selber wiederfinden, liebe Lou oder nicht — Ich bin noch nie mit einem so armen M<enschen> umgegangen wie Sie sind
unwissend — aber scharfsinnig
reich in der Ausnützung des Gewußten
ohne Geschmack, aber naiv in diesem Mangel
ehrlich und geradezu im Einzelnen, aus Trotz zumeist; im Ganzen, was die Gesammt-Haltung des Lebens betrifft unehrlich (krank aus Überarbeitung usw.)
Ohne jedes Feingefühl für Nehmen und Geben
ohne Gemüth und unfähig der Liebe
im Affekt immer krankhaft und dem Irrsinn nahe
ohne Dankbarkeit, ohne Scham gegen den Wohlthäter
untreu und jede Person im Verkehr mit jeder anderen preisgebend
unfähig der Höflichkeit des Herzens
abgeneigt gegen die Reinheit und Reinlichkeit der Seele
ohne Scham im Denken immer entblößt, gen sich selber gewaltsam im Einzelnen
unzuverlässig
nicht „brav“
grob in Ehrendingen
ungeheuer das Negative
„ein Gehirn mit einem Ansatz von Seele“
Charakter der Katze — das Raubthier, das sich als Hausthier stellt,
das Edle als Reminiscenz an den Umgang mit edleren M<enschen>
ein starker Wille, aber ohne großes Objekt
ohne Fleiß und Reinlichkeit
ohne bürgerliche Rechtschaffenheit
grausam versetzte Sinnlichkeit
rückständiger Kinder-Egoismus in Folge geschlechtlicher Verkümmerung und Verspätung
der Begeisterung fähig
ohne Liebe zu M<enschen>, doch Liebe zu Gott
Bedürfniß der Expansion
schlau und voll Selbstbeherrschung in Bezug auf die Sinnlichkeit der Männer