1882, Briefe 185–366
295. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Naumburg, 1. September 1882.>
Mein lieber, lieber Freund, diesmal kommt „Musik“ zu Ihnen. Ich möchte gern ein Lied gemacht haben, welches auch öffentlich vorgetragen werden könnte —, „um die Menschen zu meiner Philosophie zu verführen“. Urtheilen Sie, ob dies „Gebet an das Leben“ sich dazu schickt. Ein großer Sänger könnte mir damit die Seele aus dem Leibe ziehn; vielleicht aber, daß andre Seelen sich dabei erst recht in ihrem Leib verstecken! — Ist es Ihnen möglich, der Composition als solcher etwas den laienhaften Strich und Griff zu nehmen? Daß ich mir nach meinem Maaßstabe Mühe gegeben habe, werden Sie mir vielleicht glauben, nämlich auf mein Wort hin. Alle Vortragsbezeichnungen bedürfen der Revision und Correctur.
F.N.
Gewiß — so liebt ein Freund den Freund,
wie ich dich liebe, räthselvolles Leben!
Ob ich in dir gejauchzt, geweint,
ob du mir Leid, ob du mir Lust gegeben,
ich liebe dich mit deinem Glück und Harme,
und wenn du mich vernichten mußt,
entreiße ich mich schmerzvoll deinem Arme,
gleich wie der Freund der Freundesbrust.
Mit ganzer Kraft umfass’ ich dich,
laß deine Flamme meinen Geist entzünden
und in der Gluth des Kampfes mich
die Räthsellösung deines Wesens finden!
Jahrtausende zu denken und zu leben,
wirf deinen Inhalt voll hinein, —
Hast du kein Glück mehr übrig mir zu geben,
wohlan — so gieb mir deine Pein.
Ihr Brief, das Zeugniß meines einzigen Lesers, that mir sehr, sehr wohl. —
Was macht die Gesundheit „des Gesunden“?
Ich bleibe einige Tage noch in Naumburg a/Saale.