1882, Briefe 185–366
362. An Paul Rée in Stibbe (Entwurf)
<Rapallo, letzte Dezemberwoche 1882>
Ich schreibe dies bei hellstem Wetter: verwechseln Sie nicht meine Vernunft mit dem Unsinn meines neulichen Opiumbriefes. Ich bin durchaus nicht verrückt und leide auch nicht an Größenwahn. Aber ich sollte Freunde haben, die mich vor solchen verzweifelten Dingen, wie denen des Sommers zur rechten Zeit warnten.
Wer konnte ahnen, daß ihre Worte Heroismus „kämpfen für ein Prinzip“ ihr Gedicht „an den Schmerz“ ihre Erzählungen von den Kämpfen für die Erkenntniß einfach Betrügerei sind? (Ihre Mutter schrieb mir in diesem Sommer: L<ou> hat die denkbar größte Freiheit gehabt.)
Oder steht es anders? Die Lou in Orta war ein anderes Wesen, als die, welche ich später wiederfand. Ein Wesen ohne Ideale, ohne Ziele, ohne Pflichten, ohne Scham. Und auf der tiefsten Stufe des M<enschen>, trotz ihrem guten Kopf!
Sie sagte mir selber, sie habe keine Moral — und ich meinte, sie habe gleich mir eine strengere als irgend Jemand! und sie bringe ihr öfter täglich und stündlich Etwas von sich zum Opfer.
Einstweilen sehe ich nur, daß sie auf Belustigung und Unterhaltung aus ist: und wenn ich denke, daß dazu auch die Fragen der Moral gehören, so ergreift mich, gelinde gesagt, eine Empörung. Sie hat es mir sehr übel genommen, daß ich ihr das Recht auf das Wort „Heroism der Erkenntniß“ absprach — aber sie sollte ehrlich sein und sagen: „ich bin himmelweit gerade davon entfernt.“ Beim Heroism handelt es sich um die Aufopferung und die Pflicht und zwar die tägliche und stündliche, und demnach um viel mehr: die ganze Seele muß voll von Einer Sache sein, und Leben und Glück gleichgiltig dagegen. Eine solche Natur glaubte ich in L<ou> zu sehn.
Hören Sie, Freund, wie ich heute die Sache ansehe! Sie ist ein vollkommenes Unglück — und ich bin das Opfer desselben.
Ich habe im Frühling gemeint, es habe sich ein M<ensch> gefunden, der im Stande sei, mir zu helfen: wozu freilich nicht nur ein guter Intell<ekt> sondern eine Moralität ersten Ranges noth thut. Statt dessen haben wir ein Wesen entdeckt, welches sich amüsiren will und schamlos genug ist, zu glauben, daß dazu die ausgezeichnetsten Geister der Erde eben gut genug sind.
Das Resultat dieser Verwechslung ist für mich, daß ich mehr als je der Mittel entbehre, einen solchen M<enschen> zu finden und daß meine Seele, die frei war, von einer Fülle widerlicher Erinnerungen gemartert wird. Denn die ganze Würde meiner Lebens-Aufgabe ist durch <ein> oberflächliches und unmoralisches leichtfertiges und gemüthloses Geschöpf wie Lou in Frage gestellt worden und auch daß mein Name
mein Ruf ist befleckt
Ich habe geglaubt, Sie hätten sie überredet, mir zu Hülfe zu kommen.
an P<aul> R<ée>