1882, Briefe 185–366
347. An Lou von Salomé in Berlin (Entwurf)
<Rapallo, vor Mitte Dezember 1882>
M<eine> l<iebe> L<ou> nehmen Sie sich in Acht! Wenn ich Sie jetzt von mir weise, so ist dies eine fürchterliche Censur über Ihr ganzes Wesen! Sie haben mit einem der langmüthigsten und wohlmeinendsten M<enschen> zu thun gehabt: aber ich bin mehr als irgend ein M<ensch> glaubt durch Ekel zu überwältigen. Schreiben Sie mir andere Briefe. Besinnen Sie sich eines Bessern, besinnen Sie sich auf sich selbst!
Ich habe mich noch nie über einen M<enschen> getäuscht: und in ihnen ist jener Drang nach einer heiligen Selbstsucht, welche der Drang nach Gehorsam gegen das Höchste ist — Sie haben ihn ich weiß nicht durch welchen Fluch verwechselt mit seinem Gegensatze, dem Ausbeuten aus der ausbeutenden Lust der Katze um nichts als um des Lebens willen —
Wenn Sie allem Erbärmlichen in Ihrer Natur die Zügel schießen lassen: wer kann dann noch mit Ihnen umgehn!
Sie haben Schaden gethan, Sie haben Wehe gethan — und nicht nur mir sondern allen den M<enschen>, die mich liebten: — dies Schwert hängt über Ihnen
Sie haben in mir den besten Advokaten, aber auch den unerbittlichsten Richter! Ich will, daß Sie sich selbst verurtheilen, und sich Ihre Strafe bestimmen.
Dies Alles sind Dinge, die man hat, um sie zu überwinden — um sich zu überwinden.
Ja, ich war Ihnen böse: aber warum von dieser Einzelheit reden? Ich bin Ihnen alle 5 Tage böse gewesen — und glauben Sie mir ich habe immer einen sehr guten Grund dazu gehabt. Aber wie sollte ich jetzt mit M<enschen> leben können, wenn ich mein Abscheu vor vielem Menschlichen nicht zu überwinden wüßte?
Ich werde nicht nur durch Handl<ungen> sondern vielmehr durch Eigenschaften beleidigt.
ich hatte damals in Orta bei mir beschlossen, Sie zuerst mit meiner ganzen Ph<ilosophie> bekannt zu machen. Ach, Sie ahnen nicht, was das für ein Entschluß war: ich glaubte daß man kein größeres Geschenk Jemandem machen kann. Eine sehr langwierige Sache (Ein langwieriger Bau und Aufbau)
Damals war ich geneigt Sie für eine Vision und die Erscheinung meines Ideals auf Erden zu halten. Bemerken Sie: ich sehe sehr schlecht.
Ich glaube, es kann Niemand besser von Ihnen denken, aber auch Niemand schlimmer.
Hätte ich Sie geschaffen, so würde ich Ihnen gewiß eine bessere Gesundh<eit> gegeben haben, aber vor allem einiges Andre, an dem mehr liegt — und viell<eicht> auch ein Bischen mehr Liebe zu mir (obwohl daran gerade am allerwenigsten liegt) und es steht ganz so wie mit Freund R<ée> — ich kann weder mit Ihnen, noch mit ihm auch nur ein Wort von dem sprechen, was mir am meisten am Herzen liegt. Ich bilde mir ein, Sie wissen ganz und gar nicht, was ich will? — Aber diese erzwungene Lautlosigkeit ist mitunter fast zum Ersticken, namentlich wenn man den M. lieb hat