1882, Briefe 185–366
269. An Lou von Salomé in Stibbe
Tautenburg bei Dornburg (Thüringen) <, 16. Juli 1882>
Nun, meine liebe Freundin, bis jetzt steht Alles gut, und Sonnabend über 8 Tage sehen wir uns wieder.
Vielleicht ist mein letzter Brief an Sie nicht in Ihre Hände gelangt? Ich schrieb ihn Sonntag vor 14 Tagen. Es sollte mir Leid thun; ich schilderte Ihnen darin einen sehr glücklichen Moment: mehrere gute Dinge kamen auf Einmal zu mir, und das „gutste“ dieser Dinge war Ihr Zusagebrief! —
Indessen: wenn man gutes Zutrauen zu einander hat, so dürfen sogar die Briefe verloren gehen.
Ich habe viel an Sie gedacht und im Geiste so mancherlei des Erhebenden, Rührenden und Heiteren mit Ihnen getheilt, daß ich wie mit meiner verehrten Freundin verbunden gelebt habe. Wenn Sie wüßten, wie neu und fremdartig mir alten Einsiedler das vorkommt! — Wie oft habe ich über mich lachen müssen!
Was Bayreuth betrifft, so bin ich zufrieden damit, nicht dort sein zu müssen; und doch, wenn ich ganz geisterhaft in Ihrer Nähe sein könnte, dies und jenes in Ihr Ohr raunend, so sollte mir sogar die Musik zum Parsifal erträglich sein (sonst ist sie mir nicht erträglich.)
Ich möchte, daß Sie vorher noch meine kleine Schrift „Richard Wagner in Bayreuth“ lesen; Freund Rée besitzt sie wohl. Ich habe so viel in Bezug auf diesen Mann und seine Kunst erlebt — es war eine ganze lange Passion: ich finde kein anderes Wort dafür. Die hier geforderte Entsagung, das hier endlich nöthig werdende Mich-selber-Wiederfinden gehört zu dem Härtesten und Melancholischsten in meinem Schicksale. Die letzten geschriebenen Worte W<agner>’s an mich stehen in einem schönen Widmungs-Exemplare des Parsifal „Meinem theuren Freunde Friedrich Nietzsche. Richard Wagner, Ober-Kirchenrath.“ Genau zu gleicher Zeit traf, von mir gesendet, bei ihm mein Buch „Menschliches Allzumenschliches“ ein — und damit war Alles klar, aber auch Alles zu Ende.
Wie oft habe ich, in allen möglichen Dingen, gerade dies erlebt: „Alles klar, aber auch Alles zu Ende“!
Und wie glücklich bin ich, meine geliebte Freundin Lou, jetzt in Bezug auf uns Beide denken zu dürfen „Alles im Anfang und doch Alles klar!“ Vertrauen Sie mir! Vertrauen wir uns!
Mit den herzlichsten Wünschen für Ihre Reise
Ihr Freund
Nietzsche.