1882, Briefe 185–366
214. An Malwida von Meysenbug in Rom (Typoskript)
<Genua, vermutlich 21. März 1882>
Mein hochverehrtes Fräulein eigentlich haben wir von einander schon einen letzten Abschied genommen — und es war meine Ehrfurcht vor solchen letzten Worten welche mich für so lange Zeit vor Ihnen stumm gemacht hat. Inzwischen ist Lebenskraft und jede Art von Kraft in mir thätig gewesen: und so lebe ich denn ein zweites Dasein und höre mit Entzücken dass Sie den Glauben an ein solches zweites Dasein bei mir niemals ganz verloren haben. Ich bitte Sie heute recht lange, lange noch zu leben: so sollen Sie auch an mir noch Freude erleben. Aber ich darf nichts beschleunigen — der Bogen in dem meine Bahn läuft ist gross und ich muss an jeder Stelle desselben gleich gründlich und energisch gelebt und gedacht haben: ich muss noch lange lange jung sein, ob ich mich gleich schon den Vierzigern nähere. — Dass jetzt alle Welt mich allein lässt, darüber beklage ich mich nicht — ich finde es vielmehr erstens nützlich und zweitens natürlich. So ist es und war es immer die Regel. Auch Wagners Verhalten zu mir gehört unter diese Trivialität der Regel. Überdiess ist er der Mann seiner Partei; und der Zufall seines Lebens hat ihm eine so zufällige und unvollständige Bildung gegeben dass er weder die Schwere noch die Nothwendigkeit meiner Art von Leidenschaft begreifen kann. Die Vorstellung dass Wagner einmal geglaubt haben kann, ich theilte seine Meinungen, macht mich jetzt erröthen. Zuletzt wenn ich mich über meine Zukunft nicht ganz täusche, wird in meiner Wirkung der beste Theil der Wagnerischen Wirkung fortleben — und das ist beinahe das Lustige an der Sache. - - -
Senden Sie mir ich bitte Sie Ihren Aufsatz über Pieve di Cadore: ich wandele gern Ihren Spuren nach. Vor zwei Jahren habe ich gerade diesen Ort sehnsüchtig ins Auge gefasst. — Glauben Sie dem nicht, was Freund Rée von mir sagt — er hat eine zu gute Meinung von mir — oder vielmehr: ich bin das Opfer seines idealistischen Triebes. —
Von Herzen Ihnen ergeben und immer der Alte noch, wenn auch der Neue
Friedrich Nietzsche.