1882, Briefe 185–366
213. An Heinrich Köselitz in Venedig (Typoskript)
<Genua, 20. März 1882>
Mein lieber Freund Möge Alles so sein wie Sie wünschen dass ich glauben möge dass es sei: — Uf! das liesse sich lateinisch besser sagen und in sieben Worten. — Erwägen Sie doch einmal ob Sie nicht mir und zweien meiner Freunde Ihre Matrimonio-Partitur verkaufen wollen? Ich biete Frs. 6000 zahlbar in vier Jahresraten zu Frs. 1500. Die Angelegenheit kann geheim bleiben wenn es Ihr Wunsch ist — Ihrem Herrn Vater dürften Sie sagen dass ein Verleger Ihnen diese Summe geboten habe. — Sodann erwägen Sie was zu thun ist um für das Gefühl der Italiäner die „Impietät“ gegen ihren Classiker Cimarosa aufzuwiegen. Man müsste dazu das Werk der Königin Marguerita empfehlen und ans Herz legen und aus der politischen Lage Gewinn ziehn. Eine deutsche Artigkeit gegen Italien — so müsste es erscheinen. Zu diesem Zwecke könnte freilich die erste Aufführung nur in Rom sein: die Widmung an die Königin dürfte Herrn von Keudell sehr interessant und erwünscht sein. Angenommen dieser Gedanke sagte Ihnen zu — so rathe ich endlich Frl. Emma Nevada für das Werk zu gewinnen: sie hat sich jetzt eben Rom erobert. Die Italiäner sind gegen alle berühmten Sängerinnen sehr artig. Aber passionirt habe ich sie ein einziges Mal gesehn.
Wir haben jetzt die Erste Wiener Operettengesellschaft hier — also deutsches Theater. Ich habe durch sie eine sehr deutliche Vorstellung davon bekommen wie Ihre Scapine beschaffen sein muss. Für weibliche Ausgelassenheit und Grazie scheinen mir die Wienerinnen wirklich erfinderisch zu sein. Sie brauchen für dies Werk wegen seiner armen Handlung lauter erste Süjets. Mir graut vor einer idealistisch anständigen Mittelmässigkeit der Aufführung. — So! Das heisst schwätzen wie ein Theaterdirector — Pardon!
Ich las in R<obert> Mayer: Freund, das ist ein grosser Spezialist — und nicht mehr. Ich bin erstaunt wie roh und naïv er in allen allgemeineren Aufstellungen ist: er meint immer Wunder wie logisch zu sein wenn er bloss eigensinnig ist. Wenn irgend Etwas gut widerlegt ist so ist es das Vorurtheil vom „Stoffe“: und zwar nicht durch einen Idealisten sondern durch einen Mathematiker — durch Boscovich. Er und Copernikus sind die beiden grössten Gegner des Augenscheins: Seit ihm giebt es keinen Stoff mehr, es sei denn als populäre Erleichterung. Er hat die atomistische Theorie zu Ende gedacht. Schwere ist ganz gewiß keine „Eigenschaft der Materie“, einfach weil es keine Materie giebt. Schwerkraft ist, ebenso wie die vis inertiae, gewiß eine Erscheinungsform der Kraft (einfach weil es nichts anderes giebt als Kraft!): nur ist das logische Verhältniß dieser Erscheinungsform zu anderen, zb. zur Wärme, noch ganz undurchsichtig. — Gesetzt aber, man glaubt mit M<ayer> noch an die Materie und an erfüllte Atome, so darf man dann nicht dekretiren: „es giebt nur Eine Kraft“. Die kinetische Theorie muß den Atomen mindestens außer der Bewegungsenergie noch die beiden Kräfte der Cohaesion und der Schwere zuerkennen. Dies thun auch alle materialistischen Physiker und Chemiker! und die besten Anhänger M<ayer>s selber. Niemand hat die Schwerkraft aufgegeben! — Zuletzt hat auch M<ayer> noch eine zweite Kraft im Hintergrunde, das primum mobile, den lieben Gott, — neben der Bewegung selber. Er hat ihn auch ganz nöthig!
Leben Sie wohl oder vielmehr gut, mein lieber Freund!
In Treue Ihr F. N.