1882, Briefe 185–366
298. An Lou von Salomé in Stibbe
<Naumburg, 8. September 1882>
Meine liebe Lou,
Alles, was Sie mir melden, thut mir sehr wohl. Übrigens bedarf ich etwas des Wohlthuenden!
Mein Venediger Kunstrichter hat einen Brief über meine Musik zu Ihrem Gedichte geschrieben; ich lege ihn bei — Sie werden Ihre Nebengedanken dabei haben. Es kostet mich immerfort noch den größten Entschluß, das Leben zu acceptiren. Ich habe zu viel vor mir, auf mir, hinter mir. — Heute siedele ich nach Leipzig über, vielleicht sogar, wenn mir Einiges gelingt, auf einen Monat. Ich will die Bibliothek benutzen und arbeiten.
Es kommt mir jetzt so vor, als ob meine Rückkehr „zu den Menschen“ dahin ausschlagen sollte, daß ich die Wenigen, die ich noch in irgend einem Sinne besaß, verliere. Alles ist Schatten und Vergangenheit. Der Himmel erhalte mir mein Bischen Humanität! —
Von Tautenburg vergaß ich zu erzählen, daß der Pfarrer außer sich vor Erstaunen war, als er den Tag nach Ihrer Abreise hörte, eine Schülerin Biedermann’s im Hause gehabt zu haben. Er hält diesen nämlich für den scharfsinnigsten Philosophen und sich selber für den einzigen wahren Schüler desselben. Die 3 Mark, welche Sie in Dornburg auf den Tisch gelegt hatten, habe ich mir erlaubt, in Ihrem Namen dem Tautenburger Verschönerungs-Verein zu übergeben.
Meine Schwester ist nicht zurückgekehrt.
Eben kam das matrimonio segreto an — nach erstem Durchblättern schon mir als Meisterstück erkenntlich. Lachen Sie nicht über die Schnelligkeit meines Unheils — ich bin sehr, sehr Musiker.
Ich empfehle Ihnen und Freund Rée (dem ich herzlich für seinen Brief danke) darüber nachzudenken, wie sich das Verantwortlichkeitsgefühl entwickelt hat. Das Ichgefühl des Einzelnen der Heerde, ebenso wie sein Gewissensbiß als Heerden-Gewissensbiß ist außerordentlich schwer mit der Phantasie zu erfassen — und ganz und gar nicht nur zu erschließen. Die größte Bestätigung meiner Heerden-Instinkt-Theorie gab mir jüngst das Nachdenken über die Entstehung der Sprache.
Vorwärts, meine liebe Lou, und aufwärts!
Mit den herzlichsten Wünschen Ihr F.N.
Adr: Leipzig poste restante.