1882, Briefe 185–366
292. An Paul Rée in Stibbe
Naumburg a/Saale. <Ende August 1882>
Mein lieber Freund,
ich erinnere mich, einige Male darüber gegrübelt zu haben, daß Sie mir von dem Augenblicke an, wo L<ou> in Stibbe war, keinen Brief mehr schrieben. Nun habe ich es, ganz und gar ohne Absicht der Nachahmung, im gleichen Falle gleich gemacht — und ich bin überzeugt, daß Sie darüber nicht mehr gegrübelt haben. Es läßt sich über L<ou> nicht schreiben, es sei denn „über ihre Begabung“ (und auch dies wäre nur eine Form des Nichtschreibens). Sehen wir zu, ob wir es einmal dazu bringen, über sie zu sprechen! —
Im Übrigen habe ich mich in der ganzen Angelegenheit betragen, wie es meiner Privat-Moral gemäß ist; und da ich dieselbe nicht zum Gesetz für Andere mache, so fehlt mir heute jeder Anlaß zum Loben und Tadeln — ein Grund mehr, keine Briefe zu schreiben! —
Ich habe einige Schritte gethan zum Zweck der baldigen Übersiedelung nach Paris. —
Ist „die fröhliche Wissenschaft“ in ihren Händen, das Persönlichste aller meiner Bücher? In Anbetracht, daß alles sehr Persönliche ganz eigentlich komisch ist, erwarte ich in der That eine „fröhliche“ Wirkung. — Lesen Sie doch den Sanctus Januarius einmal im Zusammenhang! Da steht meine Privat-Moral beisammen, als die Summe meiner Existenz-Bedingungen, welche nur ein Soll vorschreiben, falls ich mich selber will.
Ich lege ein Billet an unsere Lou bei.
Adieu, lieber alter Freund! Und mögen auch Ihnen „alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig und alle Menschen göttlich sein“ — so wie sie mir es sind.
Mit den herzlichsten Wünschen
Ihr
F Nietzsche.