1882, Briefe 185–366
345. An Erwin Rohde in Tübingen
<Rapallo, Anfang Dezember 1882>
Mein lieber Freund,
so bin ich doch wieder im „Süden“; ich kann immer noch nicht nordischen Himmel, Deutschland und „die Menschen“ vertragen. Es gab sehr viel Krankheit und Melancholie inzwischen.
Bei Deinem mir äußerst willkommenen Briefe, der mich in Santa Margarita erwischte, hatte ich namentlich Eine Freude: Dich von einer concentrirenden Haupt-Arbeit reden zu hören. Im Grunde zürne ich allen meinen Freunden im Stillen, bevor ich nicht dies Wort von ihnen höre. Wir müssen uns in etwas Ganzes hineinlegen, sonst macht das Viele aus uns ein Vieles.
Ich schreibe heute auch so schlecht wie gewisse Freunde — und nicht einmal aus Rache. —
Was mich betrifft — liebsten Freund, sieh zu, daß Du gerade jetzt nicht über mich in den Irrthum geräthst. Gut, ich habe eine „zweite Natur“, aber nicht um die erste zu vernichten, sondern um sie zu ertragen. An meiner „ersten Natur“ wäre ich längst zu Grunde gegangen — war ich beinahe zu Grunde gegangen.
Was Du von dem „excentrischen Entschluß“ sagst, ist übrigens vollkommen wahr. Ich könnte Ort und Tag dazu nennen. Aber — wer war es doch, der sich da entschloß? — Gewiß, liebster Freund, es war die erste Natur: sie wollte „leben“. —
Lies mir doch einmal zu Gefallen meine Schrift über Schopenhauer: es sind ein paar Seiten drin, aus denen der Schlüssel zu nehmen ist. Was diese Schrift und das Ideal darin betrifft — so habe ich bisher mein Wort gehalten.
Die hochmoralischen Attitüden mag ich schlechterdings nicht mehr. Die Worte in jener Schrift mußt Du ein wenig umfärben.
Nun stehe ich vor der Hauptsache. —
Was den Titel „fröhliche Wissenschaft“ betrifft, so habe ich nur an die gaya scienza der Troubadours gedacht — daher auch die Verschen.
Von Herzen
Dein alter Freund
Nietzsche.
Santa Margherita Ligure
poste restante.
Himmel! Was bin ich einsam!