1882, Briefe 185–366
352. An Lou von Salomé vermutlich in Berlin (Entwurf)
<Rapallo, vor Mitte Dezember 1882>
Ich mache Ihnen heute nichts zum Vorwurf als daß Sie nicht zur rechten Zeit über sich gegen mich aufrichtig gewesen sind. Ich gab Ihnen in Luzern meine Schr<ift> über Sch<openhauer> — ich sagte Ihnen daß da meine Grundgesinnungen drin stünden und daß ich glaube, es würden auch die Ihrigen sein. Damals hätten Sie lesen und Nein! sagen sollen — In solchen Dingen hasse ich alle Oberflächlichkeit — es wäre mir Viel erspart geblieben! Ein solches Gedicht wie das „an den Schmerz“ ist in Ihrem Munde eine tiefe Unwahrheit. —
Sehen Sie, ich habe genau umgekehrt gehandelt: ich schrieb eigens dazu einen Brief an Fr<au> O<verbeck> um sie zu bitten, Ihnen über meinen Charakter einige (von mir bestimmt bezeichnete) Aufschlüsse zu geben, damit Sie nicht von mir erwarteten, was ich nicht gegen Sie leisten kann.
Ich habe das weiteste Herz für die Verschiedenheit von M<enschen>. Allein es ist unerträglich, Jemanden wegen Eigensch<aften> zu verehren deren Gegentheil er besitzt.
Sagen Sie nichts l<iebe> L<ou> zu Ihren Gunsten: ich habe schon mehr zu Ihren Gunsten geltend gemacht als Sie konnten — und zwar vor mir und vor Andern.
M<enschen> solcher Art wie Sie können nur durch ein hohes Ziel andern M<enschen> erträglich sein.
Wie verkümmert nimmt sich Ihre M<enschlichkeit> neben der von Freund R<ée> aus! Wie arm sind Sie in der Verehrung, der Dankbarkeit, der Pietät, der Höflichkeit, der Bewunderung — Scham — um von höheren Dingen nicht zu reden. Was würden Sie antworten wenn ich Sie fragte: sind Sie brav? Sind Sie unfähig des Verraths?
Haben Sie kein Gefühl davon, daß wenn ein M<ensch> wie ich in Ihrer Nähe ist, er viel Überwindung nöthig hat?
Ich könnte es mir leichter mit Ihnen machen: aber ich habe mich schon in so manchen Stücken überwunden, daß ich auch dies noch glaube, zu Stande zu bringen: Ihnen zu nützen, selbst wenn Sie mir schaden.
Wissen Sie daß ich Ihre Stimme nicht hören mag — außer wenn Sie bitten?
Sind Sie rechtschaffen? (Feingefühl im Verhältniß von Geben und Empfangen