1882, Briefe 185–366
300. An Elisabeth Nietzsche in Tautenburg
<Leipzig, 9. September 1882>
In zwei, drei Tagen, meine liebe Lisbeth, geht es fort; an Eisers, die ich in Frankfurt aufsuchen will, habe ich geschrieben, und sobald ich von Dir Herrn Sulger’s Adresse weiß, wird alles in Ordnung sein. Gestern erhielt ich zwei Postkarten von Dir — aus Messina über Rom und Basel — Ehre der Post! —
Ich habe auch meine für Naumburg festgesetzte Arbeit (eine Composition) schönstens erledigt und auch dabei mir genug gethan. —
Wenn ich Dir nur einen Begriff von meiner fröhlichen Zuversicht geben könnte, die mich diesen Sommer beseelt hat! Es ist mir Alles gelungen und Manches wider Erwarten — gerade da als ich es mißlungen glaubte. Auch Lou ist sehr zufriedengestellt (sie steckt jetzt ganz in Arbeit und Büchern.) Was mir sehr wesentlich ist: sie hat Rée zu einer meiner Hauptansichten bekehrt (wie er selbst schreibt), die das Fundament seines Buches völlig verändert. Rée schrieb gestern „Lou ist entschieden in Tautenburg um einige Zoll gewachsen“.
Ich höre mit Betrübniß, daß Du noch immer an der Nachwirkung jener Scenen zu leiden hast, die ich Dir von Herzen gern erspart hätte. Halte aber nur diesen Gesichtspunkt fest: durch die Aufregung dieser Scenen kam an’s Licht, was sonst vielleicht lange im Dunklen geblieben wäre: daß L<ou> eine geringere Meinung von mir und einiges Mißtrauen gegen mich hatte; und wenn ich genauer die Umstände unsres Bekanntwerdens erwäge, so hatte sie vielleicht dazu ein gutes Recht (eingerechnet die Wirkung einiger unvorsichtigen Äußerungen von Freund R<ée>) Nun denkt sie aber jetzt ganz gewiß besser von mir — und das ist doch die Hauptsache, nicht wahr, meine liebe Schwester? Im Übrigen, wenn ich an die Zukunft denke, so wäre es mir hart, annehmen zu müssen, daß Du mit mir in Bezug auf L<ou> nicht gleich empfändest. Wir haben eine solche Gleichartigkeit der Gaben und Absichten, daß unsre Namen irgend wann einmal zusammen genannt werden müssen; und jede Verunglimpfung, die sie trifft, wird mich zuerst treffen.
Doch vielleicht ist dies wieder schon zu viel über diesen Punkt. Ich danke Dir nochmals von ganzem Herzen für alles, was Du mir Gutes in diesem Sommer angethan hast — und ich erkenne Dein schwesterliches Wohlwollen wahrhaftig recht sehr in dem auch, wo Du mit mir nicht gleichempfinden konntest. Ja, wer darf sich auch mit mir wider-moralischen Philosophen ohne Gefahr einlassen! Zweierlei verbietet mir meine Denkweise unbedingt: 1) Reue 2) moralische Entrüstung. —
Sei wieder gut, liebes Lama!
Dein Bruder.