1882, Briefe 185–366
305. An Lou von Salomé in Stibbe
<Leipzig, vermutlich 16. September 1882>
Meine liebe Lou, Ihr Gedanke einer Reduktion der philosophischen Systeme auf Personal-Acten ihrer Urheber ist recht ein Gedanke aus dem „Geschwistergehirn“: ich selber habe in Basel in diesem Sinne Geschichte der alten Philosophie erzählt und sagte gern meinen Zuhörern: „dies System ist widerlegt und todt — aber die Person dahinter ist unwiderlegbar, die Person ist gar nicht todt zu machen“ — zum Beispiel Plato.
Ich lege heute einen Brief des Professor Jacob Burckhardt bei, den Sie ja einmal kennen lernen wollten. Auch er hat etwas Unwiderlegbares in seiner Persönlichkeit; aber da er ein ganzer eigentlicher Historiker ist (der Erste unter allen lebenden), so hat er gerade daran, an dieser ewig ihm einverleibten Art und Person, kein Genügen, er möchte gar zu gerne einmal aus andern Augen sehen, zum Beispiel, wie der seltsame Brief verräth, aus den meinigen. Übrigens glaubt er an einen baldigen und plötzlichen Tod, durch Schlagfluß, nach Art seiner Familie; vielleicht möchte er mich gerne als Nachfolger in seiner Professur? — Aber über mein Leben ist schon verfügt. —
Inzwischen hat der Prof. Riedel hier, der Präsident des deutschen Musik-Vereins, für meine „heroische Musik“ (ich meine Ihr Lebens-Gebet“); Feuer gefangen — er will es durchaus haben, und es ist nicht unmöglich, daß er es für seinen herrlichen Chor (einen der ersten Deutschlands „der Riedelsche Verein“ genannt) zurecht macht. Das wäre so ein kleines Weglein, auf dem wir Beide zusammen zur Nachwelt gelangten — andre Wege vorbehalten. —
Was Ihre „Charakteristik meiner selber“ betrifft, welche wahr ist, wie Sie schreiben: so fielen mir meine Verschen aus der fröhlichen Wissenschaft ein — p.10, mit der Überschrift „Bitte“. Errathen Sie, meine liebe Lou, um was ich bitte? —Aber Pilatus sagt: „was ist Wahrheit!“ —
Gestern Nachmittag war ich glücklich; der Himmel war blau, die Luft mild und rein, ich war im Rosenthal, wohin mich Carmen-Musik lockte. Da saß ich 3 Stunden, trank den zweiten Cognac dieses Jahres, zur Erinnerung an den ersten (ha! wie häßlich er schmeckte!) und dachte in aller Unschuld und Bosheit darüber nach, ob ich nicht irgend welche Anlage zur Verrücktheit hätte. Ich sagte mir schließlich Nein. Dann begann die Carmen-Musik, und ich gieng für eine halbe Stunde unter in Thränen und Klopfen des Herzens. — Wenn Sie aber dies lesen, werden Sie schließlich sagen: Ja! und eine Note zur „Charakteristik meiner selber“ machen. —
Kommen Sie doch recht, recht bald nach Leipzig! Warum denn erst am 2 Oktober? Adieu, meine liebe Lou!
Ihr F.N.