1866, Briefe 490–534
523. An Carl von Gersdorff in Berlin
Kösen 11 Oktob 1866.
Lieber Freund,
Du bekommst heute Nachricht über mein einförmiges, zwar für mich durchaus nicht langweiliges, aber doch für das Auge des objektiven Beschauers herzlich trocknes und interesseloses Leben. Im Grunde ist nur der Mangel an mittheilbaren Stoff die Veranlassung, daß Dein letzter Brief, wie alle Deine Briefe für mich ein freudiges Ereigniß, so lange unbeantwortet blieb. Ich bin diese Ferien nicht verreist, sondern sitze in arbeitsamer Einsamkeit in Kösen, das meine Mutter und ich, um der Naumburger Cholera zu entgehen, seit vier Wochen bewohnen: während meine Schwester sächsischen Verwandten ihre Besuche macht. Zwar sind die letzten Tage schwer kalt; ich schreibe Dir im Überrock, mit einer Decke über meine Füße, da unser Zimmer keinen Ofen hat; doch hat dieser Zustand schon Sonnabend sein Ende, wo wir wieder nach Naumburg zurückkehren. Abgesehen von diesen letzten, kalten, nebeldichten Herbsttagen haben wir uns nur über liebenswürdig helles und warmes Wetter zu freuen. Einige Nachmittage waren so mild und sonnig, daß ich unaufhörlich jener einzigen und unwiederbringlichen Zeit gedenken mußte, wo ich, zum ersten Male vom Schulzwange frei, ohne die Fessel des nicht verbindenden Verbindungslebens, den Rhein mit dem freien stolzen Gefühl einer unerschöpflich reichen Zukunft sah. Wie schade, daß ich mich um diese wirkliche Poesie durch jene selbsteignen Qualen brachte, die dem unmündigen Studenten so leicht als Quellen der Freude erscheinen.
Bei diesem Rückblick auf vergangne Zeiten bin ich übrigens nicht undankbar gegen die Gegenwart. Meine Wünsche sind im letzten Jahre durch die Wirklichkeit in meheren Punkten überholt worden. Wenn alsbald ein Umschlag eintritt, so darf ich nicht murren, sondern Unglück gegen Glück compensieren. Gerade durch den Gegensatz gegen das Bonnerleben ist mir das letzte Studienjahr in Leipzig so lieb. Während ich mich dort unverständigen Gesetzen und Formen fügen mußte, während mir Vergnügungen oktroyirt wurden, die mir widerstanden, während ein arbeitsloses Leben unter leidlich rohen Menschen mich mit tiefer Verstimmung erfüllte, hat sich in Leipzig unvermuteter Weise alles umgekehrt. Angenehme, liebe, freundschaftliche Beziehungen, unverdiente Bevorzugung von Seiten Ritschls, eine Anzahl mitstrebender Studiengenossen, gute Wirthsleute, gute Conzerte usw., wahrhaftig, hinreichend, um mir Leipzig zu einer sehr lieben Stadt zu machen! Daher kannst Du Dir mein Vergnügen vergegenwärtigen, als ich kürzlich im muthigen Ritter das Leipziger Tageblatt fand. Dies studiere ich täglich und eifrig, überlese die Speiselisten, die Conzertanzeigen, die Recensionen von Dr. E<mil> Kn<eschke>, die Choleralisten, all’ die kleinen Zänkereien und Streitigkeiten, deren Organ jenes Blatt ist. Beiläufig erwähne ich, daß der Philosoph Leipzigs, Weiße, sowie der Aesthetiker, Flathe, auch jener Seuche zum Opfer gefallen sind, ebenso der Weinhändler Dähne. Vom alten Rohn bekam ich neulich einen längeren Brief, worin er mittheilte, daß er nicht zur Keuschen Auktion kommen könnte, weil er sein Geschäft in den Meßtagen „sauber pflegen müßte,“ außerdem „Vermehrung in nächsten Tagen!“ Womit er auf die zu erwartende Bereicherung seiner Familie in nächster Zeit hindeuten wollte. Die besagte Auktion ist auch glücklich ohne ihn vom Stapel gelaufen: die Preise waren sehr hoch, was den Bestrebungen der Calvaryschen Antiquariatshandlung und der Pförtner Lehrer zu danken ist. Letztere nämlich zahlten mitunter höher als der Ladenpreis war, indem sie in den Büchern des ehemaligen Collegen Keil sich selbst ehrten. Besonders kaufte Corssen für die Pförtner Bibliothek theuer genug. Der Coetus kaufte mit Begeisterung die Revolutionslitteratur des alten Keil auf und bot durchweg auf die unnützlichsten Bücher. Ich habe gegen 24 Thl. dabei ausgegeben, unter andern ist der Bernhardysche Suidas für 9 Thl. in meinen Besitz gekommen. Wichtiger ist mir diese Auktion dadurch geworden, daß ich einen Dr. Simon, den Socius der Calvaryschen Handlung kennen lernte und mit ihm wahrscheinlich ein großes Geschäft machen werde. Ich suche mir für mehere Hundert Thaler nach den umfassenden Catalogen Calvarys aus, und bezahle diese Summe in jährlichen Raten von 60 Thl. Auf diese Art komme ich in den Besitz einer hübschen Bibliothek. Du kannst es würdigen, wenn meine täglichen Gedanken sich längere Zeit auf den Erwerb einer Bibliothek gerichtet haben. Ohne eine solche ist nun einmal all unser philologisches Arbeiten Stückwerk.
Mein Theognismanuscript habe ich noch einer letzten Revision unterworfen; seit zwei Wochen wird es in der Druckerei sein. Dindorf hat es auch durchgelesen. Der Titel ist: „Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung.“ Von Ritschl habe ich in diesen Ferien auch einen sehr freundlichen Brief bekommen. Meine lexikalischen Arbeiten habe ich mit sehr mangelhaftem Apparat begonnen; die Pförtner Bibliothek und Corssen haben mich unterstützt. Wenn ich nach Leipzig komme und Dindorf meinen Probebogen annimmt, so wird die Arbeit aus vollem Zeug begonnen. Doch lasse ich mich möglichst wenig in anderen Studien stören. Ich will mir vor allem noch die Hauptresultate der Sprachforschung aneignen, um mein Lexicon wirklich vom Standpunkte der modernen Philologie aus schreiben zu können. Es ist so, wie ich Dir neulich schrieb: Ritschl findet immer einen hübschen Weg, mich zum Arbeiten zu veranlassen.
Du kennst den Dr. Richter; er gefällt mir sehr gut, und ich besuche ihn gern. Der arme Mann hat litterarische Gegner, und darunter den höchst groben Lucian Müller. In Kürze erscheint eine Ausgabe der Tragödien Senekas von ihm, in denen er das bekannte eurhythmische Princip entdeckt zu haben glaubt. Die Urtheile Richters über Pförtner Zustände sind sehr richtig; lange haben wir uns neulich über das Pförtner Lügensystem unterhalten, das ihm die Pforte sehr verleidet und seinem aufrichtigen Wesen sehr zuwider sein muß.
Wir können uns aber glücklich schätzen, daß wir noch in den Strahlen der untergehenden Sonne in Pforte gelebt haben. Die große Zeit dieser Anstalt ist völlig vorüber, die bestimmte Richtung einiger Regierungsbeamten, die Pforte zu dem Niveau andrer Gymnasien hinunterzudrücken, siegt vollkommen. Auch Peter wird es nicht mehr lange aushalten, nachdem jetzt nun auch der beste Lehrer der Anstalt, Corssen, seinen Abschied verlangt und erhalten hat. Vielleicht ist Dir dies eine Neuigkeit, jedenfalls eine schmerzliche. Denn das schöne Bild der Pforte lebt nur noch in unsrer Erinnrung. Was ist Pforte ohne Steinhart und Corssen. Letzterer geht nach Berlin, um dort seine großen Studien im Kreise von gelehrten Freunden fortsetzen zu können. Ich bitte Dich Jedem, der Corssen kennt, zu sagen, daß er nicht fortgeschickt worden ist, sondern daß man ihn sehr ungern fortgelassen hat, wenigstens von Seiten des Pförtner Collegiums. Schließlich hat man ihm noch die Herausgabe der Pförtner Alterthümer übertragen und ihm dazu 1500 Thl. bewilligt. Auch hat er die Absicht, einige Zeit nach Italien zu gehen. Ich freue mich, daß er sehr freudig in die Zukunft blickt. Wenn Du in Berlin sein solltest, so besuche ihn sicherlich. Seine Mutter wohnt Commandant.str. 40.
Ueber Politik habe ich heute keine Lust zu sprechen, doch sage ich Dir meinen Dank für Deine Ergießungen im letzten Briefe, in denen Du genau meine Ansicht theilst. Übrigens sieht man Zeichen und Wunder allenthalben.
Musik habe ich wenig getrieben, da ich in Kösen kein Klavier zur Verfügung habe. Dagegen hat mich der Klavierauszug der Walküre von Rich. Wagner begleitet, über die meine Empfindungen sehr gemischt sind, so daß ich kein Urtheil auszusprechen wage. Die großen Schönheiten und virtutes werden durch eben so große Häßlichkeiten und Mängel aufgewogen. +a+ (—a) giebt aber nach Riese und Buchbinder 0.
Jetzt arbeitet derselbe Componist den Zeitungen nach an einer Hohenstaufenoper und läßt sich ab und zu vom König, „dem holden Schirmherr seines Lebens“, wie es in der Widmung heißt, besuchen. Es schadete übrigens nichts, wenn der „König mit dem Wagner gienge,“ (gehen in des Wortes verwegenster Bedeutung), natürlich aber mit anständiger Leibrente.
Von Deussen höre ich nichts. Er schreibt nicht, deshalb hoffe ich, daß er noch nicht definitiv über nächstes Semester entschieden hat, folglich noch correktionsfähig ist. Der Kampf wider die Vorurtheile seiner Mutter mag nicht leicht sein. Ich werde mich sehr freuen, wenn er nach Leipzig kommt und ich ihm nach irgend einer Seite hin gefällig sein kann. Nächstes Semester höre ich griech. Grammatik bei Curtius, lateinische bei Ritschl, dann Paläographie bei Tischendorfs Gnaden (codd. lesen versteht er gründlich, und das ist abscheulich schwer). Im Theater ist der junge Wachtel als Tenor engagirt, also der Sohn des von uns bewunderten. Die Euterpedirektion ladet zum Abonnement ein und verspricht lauter bekannte Sachen.
Die Universität hat den Anfang der Collegien drei Wochen lang hinausgeschoben. Was die Herren faul sind: Wie freudig sie sich hinter das Banner der Cholera stecken! Mich wird es nicht hindern, am 17 Oktober wieder in Leipzig einzuziehen. Am 13 verlasse ich Kösen und siedle nach Naumburg über.
Damit ist heute meine karge Fülle an unbedeutenden Nachrichten bis zur Neige ausgeschöpft, und es bleibt mir nichts übrig als die Grüße zu referieren, die mir aufgetragen sind, die Grüße meiner Mutter, sowie der Pförtner Lehrer, Volckmann, Corssen, Peter, Koberstein usw.
Über Deine glückliche Beförderung bin ich sehr erstaunt. Ich würde mich nicht wundern, wenn Du auch noch einen Orden erhalten hättest; denn ich kann mir denken, wie gern man Dich als Kriegsmann im Heere zurückhalten möchte.
Zu Schluß ein solonisches Distichon, was sich zum Motto für Bismark eignet:
ἔστην ἀμφιβαλὼν σάκος ἀμφοτέροισι,
νικᾶν δ᾽οὐκ εἴασ᾽οὐδετέρους ἀδίκως.
„Hab einen mächtigen Schild vor beide Parteien gestellt: Steh ich und lass’ in Gewalt keiner von beiden den Sieg.“
Dein Freund
FW. Nietzsche