1866, Briefe 490–534
491. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Leipzig, 12. Januar 1866>
Meine liebe Mama und Lisbeth,
Das ist doch recht schlimm, daß ich so lange gezögert habe, und Ihr wahrscheinlich lange schon Nachricht von mir erwartet habt. Ich kann nicht helfen, ich hatte keine Zeit. Aber heute will ich das Verabsäumte nachholen.
Zuerst glaube ich, daß uns allen die Weihnachtsferien recht behagt haben und daß ihre Kürze ihr einziger Mangel war. So danke ich Euch denn noch für die vielfachen Bezeigungen Eurer Liebe, die sich bis zum Pfefferkuchen und zur wollnen Socke ausgedehnt hat. Zugleich giebt mir der Pfefferkuchen die tröstliche Sicherheit, daß das Lama doch noch im Laufe dieses Jahres in den gefräßigen Besitz ihrer Pfefferkuchen gekommen ist: also vorläufig noch keine pessimistischen Lebensansichten braucht.
Die Kiste ist regelmäßig angekommen, nur war sie etwas schwer, was ich recht fühlte, als ich sie von der Post in meine Wohnung trug. So bin ich auch selbst mit dem Gepäck richtig eingetroffen und hatte in Corbetha nicht umzusteigen; als ich in meiner Wohnung ankam, fand ich den kräftigen Geruch neuangestrichner Fenster; meine Wirthsleute hatten mich ein paar Tage später erwartet. Das gilt auch von meinen Freunden, die alle erst Sonntag kamen, so daß ich den Sonnabend Abend einsam in Begleitung von Stolle und Schopenhauer verleben mußte. Erstere hat sich so empfohlen, daß sie bereits von der Tagesordnung verschwunden ist. Am Dienstag Abend hörte ich in einer Volksversammlung die geistreiche Rede eines Frankfurters, des Dr. Leopold Stein, die für die Masse leider zu geistreich war. Gestern war Sitzung unsres philologischen Vereins.
Etwas habe ich doch noch in Naumburg vergessen, das sind die Ueberschuhe. Ich werde sie mir zu Deinem Geburtstag mitnehmen. Das Kissen empfiehlt sich sehr durch seine lebhaften Farben auf meines Sophas Grün. Ich habe einen recht kräftigen Schnupfen, das ist freilich sehr ungemüthlich. Es folgt anbei der Brief an die Tante Rosalchen.
Wenn ich recht vermuthe, so ist diese Tage die liebe Großmama bei Euch. Sie hat es sehr glücklich mit der Zeit getroffen, falls Ihr auch so schöne Tage habt wie wir. Da könnt Ihr vielfach zusammen ausgehn. Hier hört man immer noch recht eigentlich die Nachklänge der Leipziger Neujahrsmesse. In meinem Zimmer höre ichs von der Ferne her den ganzen Tag über tönen. Man kann in keine Restauration gehn, ohne Gesang und Spiel, man kann nicht zu Mittag essen, ohne nicht durch sehr schlechte Musik gestört zu werden.
In meiner Wohnung gefällt mirs ganz gut. Zwar schreien die Säuglinge immer noch fabelhaft. Und ich glaube nicht, daß diesem Hauptschaden abgeholfen werden kann. Aber anderweitig scheine ich jetzt besser daran zu sein.
Die Butter ist schmackhaft und gut.
Ich habe Euch in den Ferien erzählt, daß ich nach Breslau gehen wollte. Das ist zum Theil etwas erschüttert, dadurch daß einer der Professoren, derentwegen ich nach Breslau gehn wollte, Breslau verlassen hat.
Der Vetter Schenkel läßt Euch bestens grüßen. Er ist nach wie vor derselbe.
Mushacke zieht in wenig Tagen aus, so daß ich jetzt auf einem einsamen Posten etwas einsam wohne. Mit Gersdorff haben wir sonnabendliche Zusammenkünfte verabredet.
Für den Riedelschen Verein habe ich kaum mehr Zeit. Denn ich bin jetzt sehr in Anspruch genommen.
Das Essen schmeckt mir jetzt erstaunlich schlecht, was theils vom Schnupfen herrührt, theils eine Schmeichelei gegen die Weihnachtsküche sein soll.
Nachdem ich so mein Füllhorn von Intelligenz- und Käsenachrichten ausgegossen habe, behalte ich durchaus meine Fassung
als Euer
FriedrichWilhelm weiland
Nietzsche.
Bitte schicke mir die Wäsche, besonders den Bettüberzug mit telegraphischer Schnelligkeit