1866, Briefe 490–534
490. An Rosalie Nietzsche in Naumburg
Leipzig am 12 Jan. 1866.
Meine liebe Tante,
ich habe nicht nöthig in den Familienkalender zu sehn, um daran erinnert zu werden, daß der 13 Januar einen Brief von mir verlangt. Es ist heute heller blauer Himmel, und das neue Jahr läßt sich an, als ob es die Frühlingstage den Wintermonaten voraus nehmen wollte. Wie ganz anders, wenn die feuchten lastenden Nebel uns den Athem und die Aussicht nehmen; da kriecht man leicht mit hypochondrischen Stimmungen in seine Stube und gedenkt des Kommenden mit beklemmtem Herzen. Heute also, liebe Tante, wo der Himmel rein und blau ist, schreibe ich Dir meine besten Geburtstagswünsche. Es macht sich unwillkürlich, daß ich frohe Hoffnungen und heitere Aussichten aus dem Wetter prophezeie; ist es doch als ob das neue Jahr Dich gleichsam mit einem herzlichen Handdruck seiner Huld und Gewogenheit versichern wolle. Möge es auch in allen Deinen Verhältnissen Dir freundlich entgegenkommen und Dich glücklich durch alle Arbeit, Mühe und böse Tage hindurchführen.
Mir, meine liebe Tante, ist es bis jetzt wohl ergangen. Ich zehre noch immer an der erquicklichen Erinnerung der Weihnachtstage, die diesmal mir besonders behagt haben. Hier nahm mich sogleich volle Arbeit in Beschlag; nach allen Seiten hin drängt es. Das bringt nun einmal die ungemeine Breite und Ausdehnung unsres Studiums mit sich. Unser philologischer Verein hat gestern Abend seine erste offizielle Sitzung gehalten, die zu allgemeiner Zufriedenheit ausgefallen ist. Nächsten Donnerstag werde ich meinen Vortrag halten. Wir haben ein hübsches Zimmer und zählen jetzt 10 Mann. Von einer andern Nachricht, die uns hier interessirte, wirst Du in den Zeitungen gelesen haben. Es war von einem Besuch des Königs die Rede, die Kniehosen der Professoren waren gerüstet und hatten Schrecken und Beängstigung unter den Facultäten hervorgerufen, es war unter anderem angekündigt, daß der König auch ein Colleg bei Ritschl hören wolle. Das ist nun freilich durch die Reise des Königs nach München unterbrochen worden. Vielleicht wird es Dir auch nicht mehr neu sein, auf welche Weise die philologische Facultät in Bonn ergänzt worden ist. Usener aus Greifswald und Bernais in Breslau sind die auserwählten, sehr tüchtige, höchst renommirte Leute aber — Wunder über Wunder! so ziemlich die extremsten Ritschelianer, die es jetzt giebt. Sie treiben den Meister fort, suchen ihn nachher zu halten und rufen endlich zwei seiner Schüler an seine Stelle.
Ich überlege mir jetzt vielfach, auf welcher preußischen Universität ich mein Examen mache. Die Frage ist schwerer als Du glaubst, und ich bin noch sehr unentschieden.
Sicher bleibt einstweilen, daß ich noch bis Michaeli in Leipzig bleibe, wo es mir ganz besonders wohl geht.
Weiteres habe ich Dir nicht mitzutheilen, liebe Tante; ich bitte noch mich bestens an Tante Riekchen zu empfehlen. Indem ich nochmals meine besten Wünsche Dir ausspreche und Dich auch um fernere Liebe und Theilnahme an meinem Leben und meinen Studien ersuche, verbleibe ich
Dein Friedrich Nietzsche.