1866, Briefe 490–534
522. An Hermann Mushacke in Berlin
Kösen 10 Oktober. <1866>
Hiermit empfängst Du die erste Hälfte Deines Briefes, die durch ein abscheuliches Versehen liegen geblieben war. Vielleicht hast Du die Gefälligkeit beiliegenden Brief in der Calvaryschen Buchhandlung abzugeben.
Lieber Freund,
meine Ferien neigen sich ihrem Ende zu und zugleich mein Herbstaufenthalt in Kösen, das ich seit etwa 3 Wochen, flüchtend vor der selbst unser Haus nicht verschonenden Naumburger Cholera, in angenehmer Behaglichkeit mit meiner Mutter bewohne, während meine Schwester in der Ferne bei Verwandten weilt. Sehr lebhaft erinnern mich gerade diese Tage an Dich und Deine lieben Angehörigen, in deren Kreis ich voriges Jahr um dieselbe Zeit weilte, sehr deutlich tritt besonders das schöne Potsdam vor meine Seele, da mich Luft, Sonnenwärme und Waldfärbung unaufhörlich in vergangne Zeiten zurückführen, oft sogar nach Bonn und seinen Herbstschönheiten. Damals war ich eben aus den festen Pfortenmauern entlassen, nicht als Sträfling, sondern als studiosus liberalium artium, (zu denen ich kindlicher Weise auch die Theologie rechnete, ein starker Rechnungsfehler!) voller Hoffnungen in eine unsichere Zukunft blickend, leider aber auch zu unerfahren, um das Bonner Leben mir selbst zu eignem und eigenartigen Genuß und Gewinn zu bestimmen. Ebenfalls war sehr behaglich unser gemeinsamer Einzug in Leipzig, unsre vorsichtigen Versuche die Stadt, die gute Stadt kennen zu lernen, unsre Vergnügungen und Wirthschaftssorgen, unsre Bekanntschaft mit Schopenhauer. Ich bin recht gewöhnt an das alte Leipzig, so daß ich mit aufrichtigem Entzücken in einem hiesigen Gasthof das Leipziger Tageblatt entdeckte und dort täglich und fleißig die Theaternachrichten und Recensionen, die harmlosen Speiseanzeigen, Mockturtlesuppen u. a. die kleinstädtischen Streitigkeiten usw. studiere. Nächste Woche, den 16 oder 17 t. Oktober, will ich wieder abreisen, obwohl ich heute zufällig erfahre, daß die Leipziger Universität den Beginn ihrer Vorlesungen noch drei Wochen hinausgeschoben hat. Doch brauche ich die Leipziger Bibliothek, außerdem habe ich noch mein altes Logis in der Elisenstr. 7 mir reservirt, so daß ich mit wahrem Vergnügen den Tag der Abreise erwarte. Die Cholera hat in Leipzig arg gewüthet, auch Flathe ausgelöscht, ist aber jetzt im Abnehmen.
Der Hauptgrund, der mich bestimmt, so bald wieder zurückzukehren, ist eine Verabredung mit Dindorf, der mit mir in eine Art von Geschäftsverbindung zu treten anfängt. Wenn ich mich recht erinnere, so habe ich Dir noch nichts davon geschrieben, da ich in höchst fahrlässiger Weise Deinen letzten freundschaftlichen Brief so lange Zeit unbeantwortet gelassen habe. Zwischen diesen Brief und zwischen meine Abreise im August fällt nämlich jenes angedeutete Ereigniß. Ritschl hat wieder das Hauptverdienst dabei. Es gilt ein Lexicon zum Aeschylus zu machen; der Plan geht von Dindorf aus, Ritschl hat mich dazu vorgeschlagen. Natürlich muß ich Dindorf ein Paar Seiten zur Probe machen. Das habe ich in diesen Ferien gethan. Es heißt Kernholz bohren. Man lernt viel dabei. Ritschl findet doch immer einen hübschen Weg, um mich zum Arbeiten zu bringen. Meine Theognisarbeit ist in der Druckerei. Mitunter fällt mir manche Lücke, manche Schwäche, manche Unwissenheit schwer aufs Herz. Doch ist nichts mehr zu machen, das Manuscript ist fort, schon seit Wochen. Wenn ich Freiexemplare erhalte — ich kenne den usus beim rhein. Museum nicht, — so bist Du einer der ersten, der eins erhält. Bios, damit Du Dich darüber amüsiren kannst.
Meinen Probebogen muß ich nach meiner Verabredung um Mitte des Monates liefern. Ritschl hat mir ein sehr gutes Honorar garantiert. Doch verstehe ich davon nichts. Genug, daß die ganze Geschichte mich auch noch für nächstes Semester in Leipzig festhält. Schließlich komme ich doch nach Berlin, wohin mich mancherlei zieht. Dahin siedelt übrigens auch Prof. Corssen aus Schulpforte über, der besagte Anstalt verläßt, aus Mißmuth über die principielle Vernachlässigung der Schule seitens der Regierung, und sodann, um seine wissenschafll. Arbeiten inmitten seiner gelehrten Freunde, des reichsten Apparates an Kunstschätzen, an Inschriften usw. fortzusetzen. Es soll eine zweite umgearbeitete Ausgabe seines Vokalismus usw. erscheinen. Mit Corssen verliert Pforte seinen besten Lehrer. Wohin man blickt, sind jetzt junge Leute, ohne weiteren Ruf, ohne sichere Praxis, ohne pädagogische Festigkeit angestellt. Jedoch sind liebenswürdige und strebsame Menschen darunter. Mit Oberlehrer Volckmann verkehre ich viel, da wir in Suidasfragen uns treffen, ebenso mit Dr. Richter, dessen Senecaausgabe (trag.) in Kürze erscheint. Er hat das eurhythmische Princip in der Ausgabe durchgeführt und ist sehr von dessen Richtigkeit überzeugt. Indessen hat er einen gefährlichen Gegner an Lucian Müller und seinen Schildknappen.
Unser philologischer Verein scheint zu gedeihen. Wir sind 10 ordentliche Mitglieder. Von Vorträgen will ich Dir nennen „über die Aspiration bei den Attikern“ von Roscher, „über Fremdwörter im Lateinischen“ von Kohlschütter, „über die sieben Weisen“ von Romundt, „über den Johannesprolog“ von Wisser, „zu Catull“ von Rhode, „die Quellen der biographischen Artikel im Suidas“ von mir. Dann haben wir öfter Abende, an denen ein „Allerlei“ von Conjekturen gebracht wird. Wisser wird die Notizen über Entstehung des Vereins, über die Mitglieder, die Vorträge zusammenstellen. Auch haben wir uns gemeinsam photographieren lassen und Ritschl ein Bild verehrt, der sich recht darüber gefreut hat. Vielleicht trete ich nächstes Semester in die Ritschlsche Societät. Wenigstens darf ich es nicht wieder ausschlagen, falls er es anbietet. Denn Ritschl hat wirklich Ansprüche auf meine volle Dankbarkeit. Ich habe immer die Empfindung, — das kann ich Dir ja, lieber Freund schreiben — als ob er meine Kenntnisse überschätzte. Immerhin ist sein Umgang sehr anspornend.
Jetzt fällt mir ein, daß ich auch wieder eine Bitte an Dich und Deinen lieben Vater habe. Du siehst ein, daß ich mich zu der lexikalischen Arbeit mit den neuesten Äschylusarbeiten bekannt machen muß. Wäre es Dir nicht möglich, mir eine kleine Sammlung der Äschylusprogramme zuzusenden, die ich, nachdem ich mir meine Notizen und Auszüge gemacht habe, pünktlich wieder zurückschicken werde? Denn es ist für mich zu kostspielig, diesen ganzen Litteraturzweig eigens für besagten Zweck anzuschaffen. Du kennst ja die Preise und den zweifelhaften Werth solcher Schriften. Sollte es aus irgend einem Grunde nicht angehn, so nimm mir meine Anfrage nicht übel. Übrigens habe ich in den letzten Wochen häufig einen Herren gesprochen, der Dich gut kannte, nämlich einen Herrn Simon, der bei dem Verkauf der Keilschen Bücher täglicher und regelmäßiger Gast war. Auch ich habe einige größere Käufe gemacht; z. B. habe ich den Suidas von Bernhardy für 9 Thl. erworben. Ich habe übrigens zu der Calvaryschen Handlung rechtes Zutrauen gewonnen.
Nun will ich Dir noch Nachricht über unsre gemeinsamen Freunde geben. Gersdorff ist, ich weiß nicht wo. Er hat mir sehr fleißig auf seinen Märschen nach und aus Baiern geschrieben und ist im Ganzen zufrieden, da er schnell genug avancirt ist. Er ist Fähndrich, trägt den Degen und thut Offizierdienste. Doch will er, wenn ein Jahr um ist und er Offizier geworden ist, wieder in den verlassenen Stand zurücktreten; er betrachtet sich nur als Kriegssoldat und ist von seinem Dienst, seiner Umgebung wenig erbaut. Sein ältester Bruder hat sich als Husarenoffizier hervorgethan, ist aber schwer verwundet und kommt erst allmählich wieder zu Kräften. Der Bruder Musikus hat in Hadersleben zu seiner Verzweiflung gestanden.
Unser Deussen studierte im vorigen Semester in Tübingen die Evangelienfragen und war in Versuchung, Pastor zu werden. Ich weiß nicht, ob er jetzt noch in Versuchung ist. Auf meine etwas heftigen Briefe antwortete er mir endlich, daß er zu der Erkenntniß komme, einen dummen Streich gemacht zu haben. Der „Herr“ mag weiter helfen! Es ist etwas zu toll, daß Deussen so lange schwanken kann. Ich habe ihm nun einen langen letzten Brief geschrieben, um ihn zu bestimmen, nach Leipzig zu kommen. Aber er hat mich über 4 Wochen lang schon ohne Antwort gelassen. Nachgerade kommt er mir etwas ,irrational‘ vor, was Du ‚unberechenbar‘ oder ‚unvernünftig‘ übersetzen magst. Ich würde mich ungemein freuen, wenn er endlich den Pfad fände, der zur Philologie führt.
Kinkel hat uns ohne Nachricht gelassen. Er wurde jüngst in den Zeitungen als der „jugendliche Doktor Gottfr. Kinkel“ bezeichnet. Seinem Vater wurde bei seinem Fortgange aus London ein Festdiner gegeben, wobei unser Dr. im Namen der Familie einen Toast gebracht hat. Ich werde ihm von Leipzig aus schreiben, um ihm ein Bild unsres Vereines zu überschicken. Ebenso sind wir ohne Nachricht von Arnoldt aus Gumbinnen. Wenn Du mir etwas schreiben könntest, so wäre es mir sehr lieb.
Hierbei fällt mir ein, daß ich Dich im Auftrage von Romundt, der sich als strebsamer junger Mensch sehr hervorthut, um ein Programm bitten soll „Die sieben Weisen Griechenlands. Sorau 1864 von Dr. Bernhardt.“ Ich erinnere mich es auf Deiner Stube gesehen zu haben. Du thust mir einen großen Gefallen, wenn Du mir besagtes Programm überschickst.
Hiermit empfehle ich mich Dir und Deinen lieben Eltern sammt meiner Mutter bestens und bitte Dich, mich im guten Angedenken zu behalten.
Dein treuer Freund
Fr. Nietzsche.
Kösen 10 Oktober.
Diesen Ort verlasse ich am 13 t. Oktober, wo ich nach Naumburg übersiedle.