1866, Briefe 490–534
515. An Carl von Gersdorff, nach Nürnberg gerichtet
Leipzig am 15 Aug. 1866.
Lieber Freund,
da ich schlechterdings nichts Bestimmtes weiß, ob Du noch in Spandau weilst oder glücklich mit dem größten Theile Deines Regiments in Nürnberg angelangt bist: so will ich annehmen, was ich Dir wünsche, nämlich das Letztere und meinen Brief ruhig nach Nürnberg transportiren lassen. Findet er Dich dort nicht auf, so mag er eine Rückreise nach Leipzig und von hier nach Spandau antreten. Der Brief wird eben so wenig wie Du selbst darüber unglücklich sein, daß er das liebenswürdige Nürnberg gesehen und kennen gelernt hat.
Im Grunde muß Deine Lage jetzt beneidenswerth sein; Du hast es vortrefflich erreicht, zwar nicht Heldenthaten zu verüben — soweit die Zeitungen darüber richtig melden — aber doch eine kräftige militärische Spritzfahrt in ein feindliches, außerordentlich angenehmes Land mit zu machen. Zudem sollt Ihr Euch in Nürnberg sehr wohl fühlen, die Bevölkerung soll zuvorkommend sein, die Zeitungen berichten von Conzerten, die Euer Regiment giebt, mit abscheulichen, aber wenigstens recht preußischen Programmen, wie ich deren eins im Schützenhause gehört habe; als bei welchem ich Dich zu treffen hoffte.
Gleich zu Anfang meines Briefes will ich Dich nun einladen, nächstes Semester doch ja wieder in Leipzig zu verleben. Du kannst ja als preußischer Soldat „zum Staunen der Bürger und Bürgerfrauen“ auch hier fortdienen; ich hoffe wenigstens, daß das in Deiner Hand stehen wird. Daß es sich in Leipzig behaglich leben läßt, hast Du auch erfahren; für ein besseres, von gewissen Schrecknissen freies Logis würden wir zusammen sorgen. Ich für meinen Theil bleibe noch hier aus allen möglichen Gründen, die Dir am Schlusse des Briefes ganz deutlich sein werden.
Die reinen Sachsen beginnen schon wieder recht üppig zu werden; man weiß leider Gottes, daß die Integrität der Landesgrenzen gewahrt wird und beginnt mit voller Lunge auf Preußen zu schimpfen. Unerträglich ist mir besonders das leise Verdächtigen, das ironische Bezweifeln preußischer Bestrebungen. Die Menschen können eben so wenig hassen wie lieben; aber „Beust ist ein großer Mann!“ Was man von preußischen Sympathien in Sachsen spricht, gilt doch sehr ausschließlich nur von einer politischen Partei, die Biedermann mit seiner deutschen Allgemeinen und Freitag mit den Grenzboten vertreten. Die Landescommission hat wirklich das Land hinter sich; was ich zuerst nicht glauben wollte. Sie hat jetzt die Treitzschkesche Schrift verboten trotz des entschiedenen Widerstandes von Seiten des preußischen Civilcommissars. Ein Buchhändler brüstet sich damit, daß eines Tages Hr. von Glycinsky, der Stadtcommandant, in Civilkleidung bei ihm erscheint, die Schrift verlangt und recht gründlich abfällt. Bei Kintschy ist jetzt ein förmliches preußisches Heerlager alle Nachmittage; der alte Kintschy immer voran. Aber anderswo z. B. bei Mahn hört man die abscheulichste sächsische Kannegießerei, besonders von solchen, die unpartheiisch erscheinen wollen und doch mit wahrer Gier alles irgendwie Preußen Nachtheilige zusammenscharren.
Deshalb komme nur her als preußischer Leutnant; dann sind wir doch wenigstens in unserem Dunstkreis vor solchen Gesprächen sicher.
Zum Besten für die Verwundeten usw. hat der Riedelsche Verein ein großartiges Conzert in der Nikolaikirche gegeben, das über 1000 Thl. eingebracht hat. Frau Flinsch, Frau Krebs-Michalesi, Hr. Auer aus Düsseldorf, usw. waren die Solisten.
In den Todtenlisten habe ich auch einen mir sehr lieben Namen wahrgenommen. Ich habe Dir wohl öfter von meinem ersten Obergesellen, dem ich sehr viel verdanke, erzählt, Krämer, der zuletzt Sek.leutnant und Adjutant im 72 Reg. war; er fiel bei Sadowa. Solche Verluste von so edelherzigen und intellegenten Menschen wiegen nicht 10 Oestreicher auf.
Die napoleonischen Befürchtungen der letzten Tage haben überall eine, wie ich hoffe, unverdiente Aufregung hervorgerufen. Immerhin bleiben noch genug Nüsse übrig, die unser Minister mit seinem kräftigen Gebiß knacken mag. Befürchtungen von jener Seite könnten am Ende das begonnene Einigungswerk am schnellsten zu Stande bringen.
Unsre Thronrede, die gerade in der Stunde vor dem Riedelschen Conzert erschien hat auf mich wie auf viele einen sehr wohlthuenden Eindruck gemacht. Ich war ganz entzückt, sang in der Kirche noch einmal so schön und dachte sehr optimistisch über Preußens und Deutschlands nächste Zukunft. Aber diese fürchterliche Kreuzzeitung hat mir den Magen verdorben, und dazu die Rede von Senfft-Pilsach. Jetzt soll gar das Wort „Indemnität“ so viel bedeuten wie „Erklärung der Continuität“; da sträuben sich meine moralischen so wie philologischen Haare.
Lieber Freund, es ist zwar rein egoistisch, aber Du wirst es begreifen, wenn ich ganz besonders Dich bitte nach Leipzig wieder zu kommen. Mit wem in aller Welt soll ich mich jetzt aussprechen? Die Masse der Bekannten thuts wahrlich nicht; es sind viele liebenswürdige und verständige Menschen darunter, aus denen ich besonders Kleinpaul heraushebe. Aber die Zeit, wo man schnell Freundschaften — was doch viel mehr sagen will — schließt, ist für mich vorüber. Lieber lebe ich da etwas einsam und schreibe Briefe an meine wirklichen Freunde, in denen ich sie bitte nach Leipzig zu kommen.
Auch auf Deussen will ich noch versuchen brieflich einzuwirken. Nach dem wir uns zweimal geschrieben hatten, brachte sein letztes Schreiben das Bekenntniß, „er habe einen dummen Streich gemacht“. Kant und Schopenhauer haben ihm zu dieser Einsicht verholfen. Wie vielen haben sie nicht schon geholfen! Trotzdem will er sein Joch bescheiden zu Ende tragen; was ich gar nicht verstehe. Er will nämlich nach seinem ersten theologischen Examen zur Philologie zurückkehren. Nein, nein. Er muß nächstes Semester nach Leipzig kommen und in unsern philologischen Verein eintreten.
Dieser Verein nämlich gedeiht vortrefflich. Ich halte streng an dem Grundsatz, bei der Aufnahme neuer Mitglieder möglichst hart zu sein und auf keine äußeren Vorzüge, etwa Liebenswürdigkeit und dergl. Rücksicht zu nehmen. Die Leute sollen etwas wissen und besonders wissensbegierig sein. Zu unsern neuen Mitgliedern gehören Rhode, Heinemann, Cron, alle drei der Ritschlschen Societät angehörig. In dieser existirt jetzt mancher Schund, wie mir erzählt wird, unter anderen ein unverbesserlich dummer Namensvetter, mit dem verwechselt zu werden ich hier und da das Unglück habe. Unser Verein ist jetzt öffentlich anerkannt; neulich haben wir Ritschl, dem geistigen Erzeuger des Vereins, unser Gesammtbild zum Geschenk gemacht.
Nun wirst Du wissen wollen, wie es mit meinem Theognis geht. Gut. Ich danke schön. Zwei Drittel der Arbeit sind fertig in Ritschls Händen, am letzten arbeite ich und denke in wenig Tagen fertig zu sein. Ritschl war sehr zufrieden mit dem, was ich ihm brachte, es hätte alles Hand und Fuß. Nach ihm will es auch W. Dindorf durchlesen, mit dem ich jetzt in Geschäftsverbindung trete. Jetzt kommt eine neue Geschichte, lieber Freund, die aber ganz geheim gehalten werden muß. Ritschl fragte mich neulich, ob ich wohl gewillt wäre auch einmal etwas für Honorar zu arbeiten. Ich antwortete: warum nicht, wenn es was ordentliches dabei zu lernen giebt. Es handelt sich also um ein Lexicon zum Aeschylos von dem Standpunkte der jetzigen Philologie aus. Lexica schreiben ist keine Wollust; aber denke, was man bei Aeschylos gerade lernen kann, wie man genöthigt ist den ungeheuren und höchst gediegenen Apparat durchzuarbeiten. Gestern Abend war ich also bei W. Dindorf, der die Sache arrangirt. Zunächst also soll ich eine Anzahl Probeseiten machen, wie Dindorf sagte, um zu sehn, wie groß ungefähr das Buch wird, in Wirklichkeit, um zu sehn, was ich kann, besonders ob ich methodisch verfahre. Das ist nun eine hübsche Probe, vor der ich mich nicht zu sehr fürchte. Vielleicht weil ich die Schwierigkeiten noch nicht kenne. Nach den Ferien bringe ich ihm die Paar Seiten, die ich recht mit Muße ausarbeite, und dann stellt er mir sein ganzes Material zu Gebote, damit ich dann aus vollem Zeuge arbeiten kann. Darunter sind, worüber ich ganz glücklich bin, auch die einzigen vollständigen Collationen des cod. Mediceus, um den sich die ganze Aeschyloskritik dreht.
Was die Größe des Buches anbetrifft, so schätzte es W. Dindorf ungefähr auf 60 Bogen. Das würden also 2 Bände jeder zu c. 500 Seiten. Verleger ist Teubner. Ritschl meinte, daß die Arbeit sehr gut bezahlt würde. Doch das verstehe ich nicht, bevor ich nicht weiß, wie viel Zeit und Mühe dazu nöthig ist.
Nicht wahr, das sind neue Aussichten? Im Grunde habe ich hier und da einmal Glück. Ritschl sorgt doch sehr liebenswürdig dafür, daß ich etwas lerne, und in einer Art, wie es mir wohl behagt. Die Bekanntschaft mit Dindorf ist ebenfalls sehr zu schätzen: er hat mir schon von codd. erzählt, die er besitzt und die er mir später zeigen will. Er ist ein großer Börsenspekulant und überhaupt ein schlauer Mann. In Geldgeschäften werde ich mich hüten selbständig zu verhandeln; das muß alles Ritschl besorgen. —
Die theatralischen Genüsse Leipzigs dauern fort. Jetzt ist Frau Niemann-Seebach da. Ich habe sie schon als Gretchen gesehn und bin erschüttert worden, wie wohl nie; dann als Julie in Romeo usw., heute hoffe ich sie als Maria Stuart zu bewundern.
Schließlich habe ich Dir zu sagen, was füglicher am Anfang gesagt sein würde. Ich sage Dir meinen herzlichsten Dank für Deinen letzten so inhaltsreichen und freundschaftlichen Brief. Mag alles was Du wünscht in Erfüllung gegangen sein!
Wenn Du einmal etwas Zeit hast, so schreibe mir doch, aber sende den Brief nach Naumburg, wohin ich nach Beendigung meiner Theognisarbeit abreisen will
Lebe recht wohl und gedenke
Deines Freundes
Fr. Nietzsche.