1866, Briefe 490–534
504. An Hermann Mushacke in Berlin
<Leipzig, 27. April 1866>
Lieber Freund,
Du hast Grund meiner Lässigkeit zu zürnen, um so mehr als Du in der aufopferndsten Weise große Mühen für mich auf Deine Schultern genommen hast. Ich bedaure es herzlich, daß ich Dir diese Unruhen gemacht habe; dieser Brief soll Dich vollkommen davon befreien; darum will ich diese Dinge gleich zu Anfang erwähnen, damit Du den andern Theil des Briefes ohne Besorgnisse lesen kannst.
Ich habe eingesehen, daß über die Geschichte der Theognideischen Drucke ich einstweilen schweigen muß, weil ich darin keine zusammenhängenden Studien gemacht habe. Dazu kann ich jetzt auch von der Besprechung dieser Fragen absehn, da in den Ferien mein Stoff nach einer andern Seite hin sich erweitert hat. Sogar die Antworten auf meine Briefe (die noch nicht eingelaufen sind) sind mir jetzt ziemlich unwesentlich. So kann ich Dir denn meinen besten Dank für Deine Gefälligkeit sagen und bitte Dich mir dies „Lärmen um Nichts“ nicht übel zu deuten.
Ich habe diese Ferien sehr regelmäßig und beinahe unausgesetzt gearbeitet, trefflich im Allgemeinen von der Pförtner Bibliothek und von Dr. Volkmann unterstützt. Allerdings bin ich jetzt immer noch nicht weiter als daß mein Material sich vollkommen zusammengefunden hat. Von der Arbeit selbst ist kein Wort geschrieben. Jetzt glaube ich aber schon eher die Untersuchungen veröffentlichen zu können als vor den Ferien. Die letzte Woche dh. solange ich in Leipzig bin, habe ich fast gar nichts mehr gethan, habe auch momentan kein rechtes Interesse daran. In einigen Wochen will ich die Arbeit in einem Zuge niederschreiben. Falls ich nicht etwa mit Ritschl auseinandergerathe, was sehr leicht einmal geschehen kann. Er hat mir damals die Verweigerung des Seminareintritts sehr übel genommen. Solche Leute sind doch gewaltig übermüthig.
Ich glaube Du kannst Dich freuen diesen Sommer fern von der Leipziger Universität zu sein. Denn es ist sehr langweilig, Curtius abscheulich, Ritschl nicht mehr neu, Voigt altbacken; ich muß nur den guten Zarncke ausnehmen, der deutsche Litteratur recht angenehm und gelehrt vorträgt. Dazu ist es heiß, daß ich schmelzen möchte, Leipziger Meßtrubel fortwährend, an dem ich zuerst mein Vergnügen hatte. Dann ist Deussen ärgerlicher Weise nicht gekommen, und Gott weiß, wo er stecken mag. Unser philologischer Verein ist sehr geschmolzen. Das Essen ist überall sehr schlecht und ebenso theuer, im Theater fortwährende Afrikanerin, und wo man hinsieht Juden und Judengenossen. Mit Gersdorff bin ich sehr viel zusammen und ich wäre übel daran, wenn der nicht in Leipzig wäre. Wir gehen öfter zu Renz oder in die Bilseschen Conzerte und essen Abends öfter in der Postrestauration, als wo es vortrefflich ist und ich schon Stammgast bin. Ich mache alle meine Bekannten auf dieses tiefe Lokal aufmerksam. Der Wirth hat mir übrigens Grüße an Deinen lieben Vater aufgetragen. Gestern hat sich unser philologischer Verein darin versammelt.
Sehr zu unsrer dh. Gersdorffs und meiner Verstimmtheit haben noch zwei Schriften beigetragen, nämlich „Arthur Schopenhauer“ von Haym und „der Pessimismus und Schopenhauer“ von Kyi. Nicht als ob sie überzeugend wären: aber sie sind, besonders die erste, sehr bösartiger Natur.
Eyffert ist auch da und kam an den ersten Tagen halbtäglich zu mir und hat sich sogar Schopenhauer ausgebeten („Mushacke hat es mir gerathen“) Ueber das Kind! Er hat sich auch gar nicht geändert, er läuft in Leipzig eben noch so blöde herum, wie in Bonn.
Da fällt mir ein, daß Rohn mir in Betreff des Hahnschen Lesebuchs etwas aufgetragen hat. Es kostet Dir 25 Srg. (eigentlich einen Thaler) und Du könntest es an Calvary bezahlen, der dahingehende Aufträge hätte.
(Als Intermezzo muß ich mich über die schlechte Feder oder Tinte beschweren, die Dir meinen Brief sehr sauer machen wird. Dazu bin ich nicht im Stande, eine geordnete Gedankenfolge zu Papier zu bringen.)
Ich wohne hübsch. Elisenstraße 7 parterre. Bei dem Besitzer einer Maschinenfabrik. Ein angenehmes Zimmer 4½ Thl., dreimal anständiger als mein letztes Logis, in das übrigens Eyffert gezogen ist. Das Zimmer ist kühl und ruhig. Ein schöner Teppich ist darin. Ganz neue Möbel, die ich mir selbst bestimmen mußte.
Der „Kater“ bei Kintschy hat sich als Schopenhauerianer entpuppt. Gersdorff kommt jetzt täglich hin. Neulich brachte der Dichter Stolle seinen Jungen, der in Leipzig Philologie studieren soll, zum alten Kintschy, als welches eine rührende Scene gab.
Vielleicht komme ich nächstes Semester doch nach Berlin. Das Studium so ins Blaue hinein ist höchst langweilig, dagegen habe ich in den 5 Wochen Ferien mehr gelernt als in Jahren.
Jetzt thue ich gar nichts mehr. Ich stehe spät auf und trinke dann 2 Glas vorzügliche Milch und lese dabei Schopenhauer oder Westphals Metrik. Dann schlendere ich in die Universität, komme gewöhnlich um 2 Stunden zu frühe, denn ich habe keine Uhr und höre nichts in meiner Einsamkeit. Bei Curtius schlafe ich fast ein, esse dann bei Mahn und gehe zu Kintschy, wo ich mich aus<ruhe,> bis ich um 3 bei Roscher anlange, um 4 bei Voigt um 5 bei Ritschl, um 6 usw. dann essen wir und gehen zu Renz. Es ist sehr langweilig, und wenn ich es zu Stande bringe, noch eine Woche oder gar 2 so zuzubringen, so wird hoffentlich das gewaltsam zurückgestauchte wissenschaftliche Bedürfniß die Stärke haben, so daß ich an Ausarbeitung meines opusculi gehen kann.
Lieber Freund, nimm mir diesen abscheulichen Brief nicht übel; wenn ich erst wieder arbeite, wirst Du sobald auch einen besseren Brief bekommen.
Dabei ist es ganz dunkel geworden. Es ist schwül draußen. Ich will noch etwas auf den baierischen Bahnhof gehen.
Grüße nur Deine lieben Eltern angelegentlich und gedenke nicht ungern
Deines Dich
vermissenden
Freundes F W N.