1866, Briefe 490–534
493. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Leipzig, 31. Januar 1866>
Liebe Mama,
obwohl Du mich Sonntag sehn wirst und also meine persönlichen Glückwünsche entgegennehmen kannst, so würde es mir doch leid thun, wenn Dein Geburtstagstisch am Freitag kein Lebenszeichen von mir aufwiese. Darum kommt heute meine musikalische Gabe, die Dir meine herzlichen Empfindungen und Wünsche in einer hörbaren Form vorführen soll. Ich halte es nun einmal für würdiger, ja für Dich sicher auch Angenehmer, wenn Du etwas von meinen geistigen Erzeugnissen bekommst. Dafür ist dieses heutige Kyrie auch eine seltne Erscheinung, da ich nun bereits über ein Jahr nicht mehr componiert habe und nur in Hinblick auf Deinen Geburtstag mich wieder in die fast aufgegebne Thätigkeit hineinversetzte. Nimm es deshalb einstweilen freundlich hin. Sonntag werde ich es Dir genau erklären und vorspielen.
Wie es zu vermuthen ist, wird an Deinem Geburtstag das Wetter so schön und frühlingsartig sein, daß Du mit einer fröhlichen und heiteren Vorbedeutung in das neue Jahr eintreten kannst. Einen großen Theil desselben werden wir also noch in dieser Nähe zusammenverleben, aber am Schluß desselben können wir wieder räumlich sehr getrennt von einander sein. Und so werden die nächsten Jahre fortfahren, unser Zusammenkommen immer seltner zu machen. Woraus denn nur folgt, daß wir die jetzige Zeit noch benutzen müssen. Und so hoffe ich denn, daß wir miteinander einen recht vergnügten Sonntag verleben; ist niemand eingeladen, so ist es mir am liebsten. Denn wir brauchen keine Gäste, um uns unter einander wohlzufühlen.
Mir geht es ganz wohl, ich habe Freude an unserm philologischen Verein, der uns alle Donnerstag zusammenführt; es sind sehr liebenswürdige Menschen darunter. Meinen Vortrag über die Theognideische Redaktion habe ich gehalten, und er hat viel Interesse erregt. Nächsten Donnerstag werden wir den Dr. Kinkel über die Anfänge griechischer Kunst hören; wir haben uns etwas näher kennen gelernt. In den letzten Tagen war der König in Leipzig und besuchte von früh bis Abend in Begleitung eines Minister und eines Generals die Vorlesungen, natürlich auch Ritschl. Er gefällt mir ganz ausnehmend, es ist ein feiner gelehrter Kopf, der etwas Herzliches und Mildes in seinem Wesen hat, gar nichts Unteroffizierartiges, wie andere Könige.
Es ist das Gerücht verbreitet, daß die Verlobung von Ritschls Tochter Ida in diesen Tagen publizirt sei, angeblich, mit Doktor Löning, der in dem Jahn-Ritschlstreite sich hervorgethan hat.
Mit Gersdorff habe ich jetzt allwöchentlich einen Abend verabredet, wo wir zusammen griechisch lesen; mit ihm und Mushacke alle vierzehn Tage einmal, wo geschopenhauert wird. Dieser Philosoph nimmt eine sehr bedeutende Stellung in meinen Gedanken und meinen Studien ein, und mein Respekt vor ihm nimmt unvergleichlich zu. Ich mache auch Propaganda für ihn und weise einzelne Menschen, wie z. B. den Vetter geradezu mit der Nase auf ihn hin. Was aber noch wenig genutzt hat. Denn bei dem echten Sachsen heißt es immer „primum vivere, deinde philosophari“ „zuerst leben, dann philosophiren“.
Damit will ich schließen und auf den Sonntag versparen, was sonst noch zu sagen wäre. Alles Gute und Erquickliche möge Dir im neuen Jahre nahe sein!
Dein Fritz.