1866, Briefe 490–534
511. An Hermann Mushacke in Berlin
<Leipzig, 11. Juli 1866>
Lieber Freund,
mit besonders herzlicher Empfindung schicke ich diesen Brief nach Berlin, der Dich an Deinem Geburtstage von mir grüßen soll. Im Ganzen bin ich jetzt in Leipzig trotz meiner vielen Bekanntschaften etwas vereinsamt; nachdem Du um Ostern uns verlassen hast, hat auch Gersdorff Lebewohl gesagt und läßt sich in Spandau zu dem gefährlichen Kriegshandwerk abrichten. Nun wohnt zwar mein Vetter ganz in meiner Nähe, nämlich in der Stube nebenan; aber wir haben nicht viele gemeinsame Interessen. Du kennst ja meinen herzensguten Vetter. Am meisten gehe ich mit Hüffer und Rohde um, die Dir noch von Bonn her bekannt sein mögen. Sodann natürlich mit meinen älteren Bekannten Roscher, Kleinpaul und Wisser. Nichts wünschte ich aber mehr als wieder einmal längere Zeit persönlich mit Dir Gedanken und Erlebnisse austauschen zu können: denn seitdem Schopenhauer uns die Binde des Optimismus vom Auge genommen, sieht man schärfer. Das Leben ist interessanter, wenn auch häßlicher.
Zudem bietet unsre Zeit besonderen Stoff zu Erfahrungen, ja zu außerordentlichen Erfahrungen. Wir werden uns viel zu erzählen haben, denn wir haben, trotz der Entfernung, das Meiste gemeinsam erlebt, ja sogar mit denselben Empfindungen erlebt. Wer wäre nicht stolz in dieser Zeit ein Preuße zu sein. Hat man nicht das seltsame Gefühl, als ob ein Erdbeben den Boden, den unerschütterlich geglaubten, unsicher machte, als ob die Geschichte nach jahrelanger Stockung plötzlich ins Rollen gekommen sei und unzählige Verhältnisse mit ihrer Wucht niederwürfe. Und sollte wirklich bloß der Kopf des einzelnen jedenfalls bedeutenden Mannes die Maschine in Bewegung gebracht haben. Sehen wir rückwärts, so empfindet man, daß jahrelang das kommende Gewitter uns in den Gliedern lag. Ich meine ja nicht, daß höhere Spukgewalten ihre Hand im Spiele haben. Vielmehr brechen morsche Gebäude mit Geprassel zusammen, wenn auch nur ein Kind an einem Pfeiler rüttelt. Jedenfalls muß man sich hüten, bei diesem Sturz nicht selbst zu verunglücken.
Dies alles könnte man reiner empfinden, wenn man nicht außerdem durch persönliches dh. vaterländisches Interesse gezwungen wäre, in athemloser Spannung dem gegenwärtigen Schauspiel zuzusehn. Wie glücklich sind wir, die wir bis jetzt bravo rufen und klatschen konnten. Ich bin indessen nicht sicher, ob sich nicht das Drama für uns in eine Tragödie verwandeln könnte. Auch könnten wir beide aufgefordert werden, dabei eine der unzähligen Statistenrollen zu übernehmen.
Immerhin scheint es fast lächerlich, wenn ich Dir bei den wichtigen Tagesinteressen von meinem Studium erzähle. Aber ich weiß, daß Du auch auf meine kleinen Erlebnisse freundschaftlich achtest. Heute nämlich bin ich endlich im Stande genau zu sagen, was mit meinen Theognisarbeiten wird. Gestern Nachts, als ich von Naumburg von einem Geburtstage zurückkam, fand ich einen Brief Ritschls vor mit dem kurzen Bemerk ‚Theognidea Parisina praesto sunt teque expectant‘. Die römische Collation habe ich schon vor meheren Wochen erhalten. Mittags war ich dann bei Ritschl, der mir wichtige Mittheilungen machte. Vor allem, daß zwei Gelehrte eine Theognisherausgabe in nächster Zeit beabsichtigten, die einen vollständigen Apparat neu gesammelt hätten. Also periculum in mora. R<itschl> empfahl mir meine Ergebnisse kurz zu einer Abhandlung zusammen zu stellen, wofür er mir das rheinische Museum offerierte. Zugleich sagte er mir, daß meine Aufstellung der familiae codicum auch nach diesen neuesten Untersuchungen sich durchaus bestätige.
So weiß ich denn endlich, was zu thun ist, und bin sehr froh darüber. Woher hätte ich auch in dieser Zeit einen Verleger bekommen. Ueberdies lerne ich von Tag zu Tag mehr, daß um einen Schriftsteller herauszugeben ganz andre Kenntnisse nöthig sind, als ich habe. So hatte ich den ganzen Gedanken an die Herausgabe in das Ungewisse hin verschoben. Heute aber kann ich nicht mehr mich weiter bedenken.
Für nächstes Semester weiß ich nichts Sicheres. Schreibe mir doch einmal über Haupts und Boekhs Collegien im Winter. Heute bringe ich Dir meine warmen Glückwünsche für Dein körperliches und geistiges Wohl, für Dein Studium, endlich für unsre Freundschaft. Grüße Deine verehrten Angehörigen auf das Beste von Deinem Freunde
Friedr. Nietzsche.
Elisenstr. 7. parterre.
Mit Deussen, der Dir seine Grüße aus Tübingen schickt, habe ich eifrig correspondirt. Er ist wieder theologus und zwar unverbesserlich (nämlich trotz Kant und Schopenhauer). Das thut mir geradezu wehe.