1866, Briefe 490–534
514. An Friederike Daechsel in Naumburg (Entwurf)
<Leipzig, August 1866>
Liebe Tante.
Gern hätte ich mündlich Dir meinen Schmerz über das zwar nicht unzeitige aber doch unerwartete Hinscheiden unser<er> lieben Julie ausgedrückt; leider aber kann ich nicht so schnell wie ich wohl wünschte nach Naumburg kommen und bin hier noch eine Reihe von Tagen durch Arbeiten, die beendet sein wollen zurückgehalten. So sehe ich mich denn genöthigt zur Feder zu greifen und dem Papier meine Worte der Trauer und der Betrübniß anzuvertrauen. Die lieben Plauenschen Tanten sind nun alle hingegangen, ein Ort, wo ich gern weilte, wo ich an meinen seligen Vater fortwährend erinnert wurde wo Milde und Liebe, treues Wirken und Schaffen aus allen Augen blickte, ist nun für mich leer geworden. Wo sind noch die Stätten, wo wir uns heimisch fühlen können? Wo sind sie jetzt außer in Naumburg? Röcken ist uns genommen, Pobles ist für uns fremd geworden auch Plauen lebt nur noch in der Erinnerung. Du weißt es, wie ich mich immer freute, wenn ich einmal hinaufreisen konnte, um die alten treuen Gesichter zu sehen, um von ihnen gute und schöne Worte zu hören, um aus ihrem reichen wechselvollen Leben, aus ihrem Schatz von Erfahrungen zu lernen. Das ist nun vorüber. Immer einsamer stehen wir jungen Menschen in der Gegenwart, die treuen Hüterinnen der Vergangenheit verlassen uns allmählich.
Du freilich sammt die liebe Tante Rosalie bist noch ganz anders durch diesen Tod getroffen. Es ist von Euch die liebste und nächste Lebensgefährtin geschieden. Aber sie ist schön und sanft geschieden. Der lebensmüde Leib sank dahin. Ihre letzten Gedanken waren sicher bei Euch und segneten Euch.