1866, Briefe 490–534
499. An Carl Dilthey in Berlin
Naumburg a./S. am 2t. Apr. 1866.
Hochgeehrter Herr,
nachdem ich mich längere Zeit angelegentlich mit Theognis beschäftigt habe, bin ich kürzlich durch Hr. Prof. Ritschl aufgefordert worden, meine Untersuchungen für den Druck vorzubereiten.
Indem ich mich nun nach einem Gelehrten umsah, mit dem ich einige Ansichten über Theognis austauschen könnte, war Hr. Dr. Volckmann in Schulpforte so freundlich, mich auf Sie, hochgeehrter Herr, hinzuweisen als einen, der dem Theognis eine besondre Aufmerksamkeit geschenkt habe: was ich schon aus dem Specimen Ihrer Theognisstudien im Rhein. Mus. 18 schließen konnte. Zugleich ermuthigte er mich dazu, Ihnen ohne Rückhalt meine Resultate vorzulegen; dies werde ich jetzt thun, und ich bitte Sie, mir diese Freiheit nicht übel zu deuten.
Ich habe zwei Punkte der Theognisfrage ins Auge gefaßt, die Wiederherstellung der letzten Redaktion und das richtige Verständniß der Suidasnotiz. Ich bin ausgegangen von einer genauen Feststellung der codd. fam., habe erwiesen, daß die Wiederholungen von den jüngsten Handschriften nach den ältesten zu fortwährend zahlreicher werden, und daß darin sich eine bestimmte Absicht des Redaktors verberge und glaube endlich das Princip dieser Redaktion, das auch die Wiederholungen erklärt, gefunden zu haben. Die einzelnen Fragmente sind durch Stichwörter aneinandergereiht, was schon Welcker an einer Anzahl Stellen bemerkt hat. Ich habe diese aber als durchgehendes Princip aufgefaßt und mit Hülfe der Annahme, daß auch in den älteren, vor dem Mutinensis liegenden codd. Wiederholungen weggelassen sind, die letzte Redaktion wiederherzustellen gesucht. Dies gilt auch für den Anhang derμοῦσα παιδικὴ. Mit diesem Moment und dem andern, daß Stobaeus unsre Stichwortredaktion benützt hat, habe ich als die Entstehungszeit dieser Redaktion den Zeitraum zwischen Julian und Stobaeus bezeichnet.
Bei der zweiten Frage ist es unzweifelhaft nöthig, von den Theognisnotizen der Eudocia auszugehen, nicht von der Suidasnotiz: wenn anders Eudocia den Hesychius (oder dessen verlorengegangene Epitome) excerpirt hat, ebenso wie Suidas. Dies steht für mich sicher. Hiernach haben wir zwei Theognisnotizen, von denen, wie ich vermuthe, die eine einer Dichtergeschichte (etwa der ἱστορία μουσικὴ des Dion. v. Halic), die andre einer Philosophengeschichte entnommen ist. Daß Theognis als Philosoph behandelt werden konnte, werden Sie sogleich zugeben, daß er es bei Suidas oder vielmehr bei Hesychius worden ist, scheint Phocylides φιλόσοφος zu verbürgen. Bei Phocylides steht auch die Zeitbestimmung für beide, die deshalb in der Philosophennotiz fehlt. Ich bemerke, daß ich Ihre vortreffliche Conjectur ἠθικῶς mit Freude annehme und für mich gelten lasse. Noch verschiedenes Einzelne spricht für diese Auffassung. Die zwei Artikel über Theognis würden nach meiner Vorstellung bei Hesychius so lauten: (denn bei der Eudocia hat der eine Artikel immer etwas aus dem andern geborgt)
I. ποιητ. Θέογνις Μεγαρεὺς τῶν ἐν Σικελία Μεγάρων γεγονῶς ἐν τῇ νθ᾽ὀλ. ἔγραψεν ἐλεγείαν εἰς τοὺς σωθέντας τῶν Συρακοσίων ἐν τῇ πολιορκίᾳ. γνώμας δι᾽ἐλεγείας εἰς ἔπη βώ.
II. φιλος. Θέογνις Μεγαρεὺς [ἐκ Σικελίας?] ἔγραψε πρὸς Κύρνον τὸν αὐτοῦ ἐρώμενον γνωμολογίαν δι᾽ἐλεγείων καὶ ἑτέρας ὑποθήκας παραινετικὰς. τὰ πάντα ἠθικῶς.
Sie sehen jetzt, wie ich mir die Suidasnotiz entstanden denke. Die Schlußbemerkung ὅτι μὲν παραινέσεις κτἑ ist nachweislich von Suidas selbst, wobei ich auf die Worte μιαρίαι und ἐνάρετος zu achten bitte. Der Worte wegen ἐν μέσῳ τούτων müssen wir annehmen, daß Suidas einen Theognis ohne μοῦσα παιδικὴ las.
Das ist der Umriß meiner Untersuchungen, den Sie vielleicht für zu dürftig und mager halten mögen.
Nach dem Wunsche von Ritschl soll der Text angefügt werden, in der Art, daß die Stichwörter durch größere Schrift hervorgehoben werden. Daß die Scheidung der Fragmente nur auf einer Gruppe inferiorer Handschriften beruht, wissen Sie selbst. Ob nicht vielleicht doch die drei Hauptcodd. Anzeichen solcher Scheidung haben, darüber erwarte ich noch genaue Antwort auf drei Briefe, die Ritschl freundlicher Weise nach Paris, Rom und Venedig entsandt hat. Der cod. Mutinensis, der nach Bekker 1827 verloren war, scheint wiedergefunden zu sein, wenn ich eine Bemerkung Bergks in der Vorrede zu den Po. Ly. Gr. III Aufl. 1866 recht verstehe. Er hat nämlich von H. Nolte eine Collation des Phocylides ’ex codice antiquissimo Parisino’ erhalten und gefunden, daß dieser cod. kein andrer als der Mutinensis B<ekker>s ist.
Ich werde, hochgeehrter Herr, sehr empfänglich und dankbar für jegliche Notiz sein, die Sie mir vielleicht mittheilen werden. Ich werde jegliches Anzeichen von Theilnahme um so höher schätzen, als ich einstweilen noch Student bin — was ich Ihnen nicht verschweigen darf — und deshalb mit einiger Unruhe dem Wunsche meines ausgezeichneten Lehrers Ritschl nachkomme.
Zum Schluß überbringe ich Ihnen die herzlichen Grüße von Herrn Dr. Volckmann und zeichne
hochachtungsvoll
Friedrich Nietzsche.
stud. phil.