1866, Briefe 490–534
492. An Edmund Oehler in Gorenzen
Leipzig 15 Jan. 1866.
Mein lieber Onkel,
Du hast lange keine Nachricht von mir bekommen und bist daher durchaus nicht im Unrecht, wenn Du deshalb mit mir etwas unzufrieden bist. Nun ist heute die Gelegenheit vortrefflich, ein Wenig meiner alten Schuld abzutragen; nämlich an einem Tage, wo jeder mit einem verzeihenden Herzen begabt zu sein scheint und besonders kleine Nachlässigkeiten gern bei Entgegennahme herzlicher Wünsche und Gefühle zu vergessen bereit ist. So ein Tag ist ja der Geburtstag. Also hoffentlich auch Dein Geburtstag.
Zum ersten Male, daß Du an demselben meine schriftlichen Glückwünsche empfängst; Dank einem vortrefflichen Familienkalender der Tante Rosalie, der mich in Stand setzt auch die Lebensabschnitte meiner lieben nächsten Verwandten gebührend zu ehren.
Ich bin sicher, Dein Gefühl zu treffen, wenn ich meine besten Wünsche für das, was Dir am nächsten liegt, für Deine Familie ausspreche: die jetzt schon ganz normal auftritt (wenn nämlich die jüngern Mitglieder schon auftreten können) und ein vollkommnes Gleichgewicht erhalten hat. Wie ja auch die einzelnen Kinder Normalmenschen geworden sind, bis jetzt, so weit ich beurtheilen kann, leiblich, für die Eltern sicherlich auch jetzt schon seelisch und geistig. Also lieber Onkel, mögen sie Dir immer viel Freude bereiten.
Ich habe mich manchmal, besonders vor Weihnachten in Dein Gorenzen versetzt und mir das Bild jener Tage zurückgerufen, die ich einmal in winterlicher Behaglichkeit dort zubrachte. Damals warst Du noch einsamer Junggesell im Besitz von sehr viel Fräcken, die die wetterwendischen Launen der Zeit und der Schneider repräsentirten. Aber schon war der Bisam erschienen, der das bevorstehende Ende des Junggesellenthums ankündigte. Du mußt denken ich sei selber Schneider geworden, aber der Connex der Gedanken ist ein anderer. Ich schrieb eben noch in Hemdeärmeln, zog, da das Feuer ausgegangen war, den Schlafrock an, jenen Schlafrock grau und roth, den dasselbe Fest mir bot und versank jetzt in Erinnerungen. Von meiner Gegenwart sollst Du auch einiges hören, zum Schluß sogar von meiner Zukunft, nämlich vom Examen, wobei ja auch der Frack eine Hauptrolle spielt, so daß ich, um in der Bilderreihe zu bleiben, für die Gegenwart nur das Symbol des Ueberrocks habe. Dieser nämlich schützt uns vor Sturm und scharfer Kälte. Das ist meine Leipziger Gegenwart, im Ganzen etwas abgeschlossen „zugeknöpft“ arbeitsam und geschützt vor äußeren Stürmen. Vollkommen verschieden allerdings von den Bonner Verhältnissen, die ich herzlich satt bekommen habe. Bis Michaelis werde ich noch hier bleiben, denn Du glaubst nicht, wie gewaltig uns die bedeutende Persönlichkeit Ritschls fesselt und wie schwer, ja kaum erträglich die Trennung von ihm sein wird. Dann gehe ich auf eine der preußischen Universitäten, nicht nach Berlin, weil dort unverständige Gegner Ritschls sind, kleine unartige Kläffer, nicht nach Halle, weil die dortige Philologie sich nicht des besten Rufs erfreut, auch nicht nach Bonn aus sehr begreiflichen Gründen, auch nicht nach Greifswald, weil es dort 5 Philologen giebt, also auf eine der übrig bleibenden. Dann beginnt nach 1—2 Jahren die Periode des „Fracks“ mit obligater Begleitung des Doktorhutes — falls ich der letzten Eitelkeit noch fähig sein sollte.
Damit sei es heute genug, lieber Onkel. Indem ich mich bestens der lieben Tante zu empfehlen bitte und meine Wünsche für Dein und Deiner Familie Wohl wiederhole, schließe ich.
Dein Friedrich Nietzsche.